Ich riskiere hier meine eigene Antwort, ohne in irgendeinem Buch oder sonstwo nachgeschaut zu haben, was andere, Berufenere dazu so meinen – trotzdem denke ich, dass was dran ist an meiner einerseits einfachen, andererseits gar nicht so einfachen Überlegung.
Meine Antwort ist nämlich einfach: Sonatenhauptsatzform!
Aha. Jetzt seid ihr so schlau wie vorher, oder, liebe Leserinnen und Leser? Also muss ich wenig weiter ausholen. Wo fange ich an? Vielleicht so: Ein Musikstück kann man sich unter vielen Blickwinkeln anschauen. Einige wichtige davon sind:
- Die Melodien (klar).
- Die Harmonien – wie klingt es zusammen?
- Die Melodieführung (der "Kontrapunkt")
- ... die Instrumentierung ...
- ... ... der Textbezug ...
- Die Form.
- Eine ganz einfache Form: Strophenlied (formal schreibt man manchmal: A A A A ... – A ist die Strophe, und die wird immer wieder wiederholt, bis der Text eben aus ist).
- Strophenlied mit Refrain: A B A B A B (A ist die Strophe, B der Refrain).
- Ein Marsch mit Trio könnte sein: A A B B A A C (das Marschthema A wird in der Regel wiederholt, dann kommt das Trio B – auch wiederholt –, dann wieder der Marsch, zum Schluss eine Coda C).
- ... und noch viele andere.
- Klaviersonaten (daher der Name; Haydn hat 100 oder so geschrieben), aber bald darauf auch
- Streichquartette (übrigens eine Instrumentalform, die auch Haydn praktisch erfunden hat), dann
- Solokonzerte (für Klavier und Orchester, Geige und Orchester, Trompete und Orchester, Klarinette und Orchester usw.usf.) und
- dann für ganze Symphoniesätze, die sich über 15 Minuten und mehr ziehen können.
Was ist nun aber diese Sonatenhauptsatzform? "Ganz einfach":
Erstens: Man entscheidet sich für eine Tonart.
Zweitens: Dann erfindet man zwei Themen (Melodien) – man nennt sie Hauptthema und Seitenthema (über ihr "Verhältnis" kann man lang philosophieren und viel studieren – tun wir hier nicht).
Drittens: Damit baut man nun folgendes zusammen:
- Hauptthema (in der Haupttonart)
- Seitenthema (eine Quinte höher – in der "Dominante")
- Wenn man will, wiederholt man die beiden Themen.
- Nun folgt ein Zwischenspiel – die sogenannte Durchführung, in der man eines der Themen kunstvoll verändert, variiert, in -zig Tonarten umbiegt, total den Faden verliert, bis man ...
- ... plötzlich wieder beim Hauptthema ist!
- Nun hängt man noch eimal das Seitenthema an – aber nun auch in der Haupttonart, damit die Sonate auch schön mit dieser Tonart endet.
- Und fertig.
- Thema – Thema – Durchführung – Thema
- "Hänschen klein ging allein in die weite Welt hinein" = A
- "Stock und Hut steht ihm gut, ist gar wohlgemut" = fast A (bis auf den Schluss)
- "Aber Mutter weinet sehr, hat ja nun kein Hänschen mehr" = ganz was anderes: B.
- "Wünsch dir Glück, sagt ihr Blick, kehr nur bald zurück" = wieder fast A.
Aber ... das ist ja alles eine Erfindung aus der und für die Instrumentalmusik! Was soll das alles mit dem Kyrie einer Mozartmesse zu tun haben? Schauen wir's uns an.
Ich verwende im Folgenden Ausschnitte aus drei verschiedenen Aufführungen, die ich bei youtube gefunden habe. Manche sind schneller, manche langsamer ... Klicken auf die kleinen Bildchen sollte den jeweiligen Ausschnitt starten.
Unser Kyrie beginnt mit einem Orchestervorspiel, das wir elegant ignorieren (ein Vorspiel, eine Einleitung oder "Intro" ist in aller Regel nicht Teil der Form, sondern eben nur eine Vorbereitung).
Dann geht's los: In der Haupttonart F-Dur und in forte kriegen wir vom ganzen Chor ein erstes Thema serviert (ah, dieses Thema wird gleich kompliziert präsentiert, über mehrere Stimmen verteilt und verschoben: Natürlich ist dieses Kyrie nicht nur eine Sonatenhauptsatzform – aber vergessen wir einmal alles über Kontrapunkt und Harmonien und bleiben wir bei der "nackten Form"):
Schon hier pendelt Mozart manchmal zur Quint-Tonart (Dominante) C-Dur, aber im Großen und Ganzen bleibt er doch in F, bis dann ab Takt 22 oder so die C-Dur gewinnt.
Update: Das mit dem Hauptthema und der ganzen Themenaufteilung stimmt so nicht. Micha hat mich herausgefordert – das Ergebnis ist diese verbesserte Untersuchung! Ich lasse den Text hier trotzdem so stehen, weil ich finde, dass ein solcher "Erkenntnisweg" von falsch zu richtig(er) auch nicht uninteressant ist.Das folgende Sopransolo (Takt 26 bis 31) tut zwar so, als sei es eine eigene Melodie, aber eigentlich spielt darüber das Orchester noch immer unser erstes Thema, und dann gibt es noch eine verlängerte Schlusswendung des Solos:
Nun ja ... es wird langsam langweilig.
Aber dann: Der Chor setzt wieder ein, in der Dominant-Tonart C-Dur, etwas "schräg und aus der Hüfte" mit einem G7-Septakkord, an dem ein kleines, aber eben doch ziemlich anderes zweites Thema (nein: siehe Update und Erklärung ein Stück weiter oben) mit 4 Takten hängt:
Wir haben hinter uns: Hauptthema und Seitenthema (was man zusammen auch "Exposition" nennt; aber das nur nebenbei). Wiederholen mag Mozart, im Gegensatz zum Komponisten des "Hänschen klein", diesen ersten Teil nicht – den Grund überlegen wir uns später.
Was kommt als nächstes? Das, was einem als Klavierspieler Angst macht beim Sonaten-Üben – die Durchführung. Es ist nun einmal so, dass es hier "zur Sache geht": Die Durchführung muss, das geht nicht anders, der erste Höhepunkt, und zwar der Höhepunkt der Kompliziertheit sein. Also legt er los, unser Herr Mozart. Nun gibt es verschiedene Grade der Kompliziertheit, und bei dieser kleineren Messe beschränkt er sich auf ein schon lange bekanntes Verfahren: Modulieren, also durch die Tonarten marschieren. Normale Septakkorde erlauben Quintschritte (C-Dur nach F-Dur gleich am Anfang der Durchführung im Takt 40), mit verminderten Septakkorden kommt man in parallele Moll-Tonarten (F-Dur nach d-moll im Takt 41), daraus kommt man mit einem verminderten Septakkord zu einer Dur, aber eigentlich schon im gleichen Taktschlag im "Terzfall" wieder in eine parallele Moll – und so weiter. Mindestens zwei Tonarten pro Takt bringt er hier an, an manchen Stellen auch drei (Takt 42). Es wird einem leicht schwindlig:
Aber es dauert auch nicht lang: Denn schon (Takt 46) beginnt wieder unser erstes oder Hauptthema! – und zwar ganz brav in der Haupttonart F-Dur, so als wären wir nie woanders hin abgeschweift:
Und eigentlich könnte der Komponist nun mit diesem Hauptthema und dann mit dem Seitenthema ohne Schwierigkeiten in den Schluss-Hafen segeln, wenn's da nicht noch eine letzte Herausforderung gäbe bei der Sonatenhauptsatzform: Wenn wir Hauptthema und Seitenthema wie am Anfang anbringen, dann würden wir nicht in der Haupttonart enden, sondern auf der Quinte (Dominante) – weil ja nach dem Seitenthema Schluss ist! Das "geht aber nicht" – man will, in aller klassischen Musik, schon in der Haupttonart aufhören. Der Komponist muss also Haupt- und Seitenthema irgendwie etwas anders verbinden als im ersten Teil. Für diese "Verbindungsänderung" gibt es viele Möglichkeiten, manche mit ganz elegant versteckten "Modulationen", manche direkter und kürzer über Septakkorde. Mozart wählt hier – "Gebrauchsmusik"?! – die brachialste, die es gibt: Er springt einfach mittendrin, bei einer Pause im Hauptthema (nein: zwischen Haupt- und Seitenthema – siehe Update!), eine Quinte nach unten! Das passiert im Takt 54, wo wir plötzlich von F-Dur nach B-Dur marschieren:
Es knirscht schon einen Moment in den Ohren ("was ist da grad passiert?"), aber was soll's – wir sind dort, wo wir hin wollen: Denn wenn nun etwas später das Seitenthema eine Quint höher losgeht, steht es (eine Quint nach unten im Takt 54, jetzt eine Quint nach oben!) ... in der Haupttonart! Und mit einem zweiten Schluss-Höhepunkt ist das Stück fertig, im Takt 70.
Nicht ganz: Um den "Drive" etwas rauszunehmen, hängt Mozart noch eine kurze Coda an, die einfach aus vier Kadenzen besteht. Diese Coda liefert eigentlich einen kleinen letzten Höhepunkt nach, indem der Sopran zum Schluss noch eine Oktav nach oben geht – weil das Kyrie das erste Stück der Messe ist, muss man da schon auch am Ende ein wenig zeigen, was man draufhat, oder?
Aber jetzt ist wirklich Schluss mit der "Kyrie-Sonate"!
Nur – wie kommt Mozart drauf, ein Kyrie als Sonate zu komponieren? Wissen tu ich's nicht, aber: Das Kyrie hat ja als Text die Folge "Kyrie eleison – Christe eleison – Kyrie eleison", also die dreiteilige Form ABA. Wenn man aber bei der Liedform AABA die erste Wiederholung weglässt, kriegt man ABA – und das passt genau zusammen! Man kann nun einerseits eine kleine Liedform verwenden, um ein Kyrie zu komponieren (wie bei manchen Kyries in der Liturgie oder in unserem Liederbuch), man kann aber eben auch die damals moderne "große Liedform", also die ganze Sonatenhauptsatzform unter das Kyrie legen – so wie's Mozart getan hat. Und wegen des Textablaufs ist auch klar, dass die Exposition eben nicht wiederholt wird.
Jetzt wissen wir es also, warum die Mitte so anders ist: Weil dort in der Sonatenhauptsatzform eben diese "künstlerische" Durchführung liegt, wo's kompliziert werden muss. Daher quält Mozart uns dort – nicht sehr lang, aber dafür intensiv!
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