Über die diversen Varianten von Harmonielehre wird in Internetforen, Blogs, aber wohl auch in gedruckten Medien unablässig diskutiert: Darüber, welche Lehre gut, richtig, verwendbar ist: Funktionsharmonik, Stufenharmonik, Akkord-Skalen-Theorie, Generalbass, um die wichtigsten vier zu nennen; aber auch darüber, wozu man Harmonielehre überhaupt braucht.
Den vielen Diskussionen mit ihren immer wieder guten, aber oft auch langen und langwierigen Argumenten fehlt aber fast immer ein Kontext, der zumindest mir wichtig ist:
Wozu betreibt, beschreit, diskutiert, lernt, verwendet man eigentlich (eine) Harmonielehre? Wie auch bei der Grammatik unserer Muttersprache, gibt es dafür im wesentlichen drei Gründe:
- Zu deskriptiven Zwecken: Strukturen in vorhandener Musik – vorrangig in Kompositionen, aber auch in improvisierter Musik – sollen beschrieben, idealerweise erklärt werden in dem Sinn, dass solche Strukturen oder Muster über viele Werke hinweg erkannt, aber auch ihre Zusammenhänge und Veränderungen bei verschiedenen Komponisten oder zu verschiedenen Zeiten sollen untersucht werden.
- Zu präskriptiven Zwecken, also als "Vorschrift": Zum Zweck der Lehre, aber auch zur Musikkritik sollen "Fehler" von "korrekten Harmonien" unterschieden werden können. Natürlich muss sich keiner einer solchen Vorschrift unterwerfen – man kann jede "Regel" immer wieder ignorieren (siehe Beethovens entsprechende Bemerkung). Aber zu jeder Zeit und in jeder Musikrichtung gibt es denn doch Regeln, die die "normalen Harmonien" beschreiben, von denen sich viele Musikschaffende (Komponisten und auch Improvisateure) nur begründet wegbewegen wollen: Dadurch werden aus den deskriptiven Regeln präskriptive.
- Zu generativen Zwecken (meine Bezeichnung): Bei allen Formen des Improvisierens – sei's Psalmengesang vor vielen Jahrhunderten, Choralimprovisationen zur Zeit Buxtehudes, aber natürlich die 100 und mehr Jahre der Jazz-Improvisation – hilft es, wenn man nicht nur fertige Muster "abspielen" kann, sondern dass man nach Strukturen spielt, aus denen man zum Zeitpunkt des Spielens die konkreten Töne gewinnt. Das einfachste Beispiel dafür ist, an einer bestimmten Stelle "abzukadenzieren", etwa wenn beim Abendmahl im Gottesdienst der Pfarrer liturgische Worte sprechen will: Je nachdem, wo meine Finger gerade liegen, ergibt sich eine konkrete Kadenz aus dem abstrakten IV-V-I-Muster.
(Ein vierter Zweck ist die Allgemeinbildung – aber den ignoriere ich, weil er mir für diese Diskussion zu generell ist).
- Die Diskussionen in Foren von Jazzmusikern haben in der Regel als impliziten Hintergrund, also als Kontext, den dritten Zweck: Wie lerne ich "Konstruktionmuster", um zugleich gut und (sozusagen) in real-time zu improvisieren; dabei ist der Witz guter Konstruktionsmuster, dass sie "offen" sind in dem Sinn, dass man daraus immer neue konkrete musikalische Abläufe gewinnen kann.
- Die Diskussionen in Foren, wo Musikstudenten unterwegs sind, haben häufig als impliziten Hintergrund den zweiten Zweck: Wie mache ich es "richtig", nach der aktuell gültigen Lehrmeinung?
- Und die wissenschaftliche Literatur orientiert sich vorrangig am ersten Zweck: Wie beschreibe ich harmonische Muster zeit- und schaffenden-gemäß; was heutzutage bedeutet, dass man gerade nicht eine einzelne, "vorschreibende" – wie beim zweiten Zweck – oder gar effiziente – wie beim dritten – Theorie verwendet, sondern diese aus der jeweiligen Zeitepoche heraus entwickelt.
Tatsächlich ist die Sache mit dem Kontext aber verworrener und auch interessanter:
- Die wissenschaftliche musikalische Analyse ist, soweit ich das sehe, bei weitem nicht "stabil" insofern, dass sie sich ihrer eigenen Analysemodelle sicher ist. Im Gegenteil, die Metadiskussion, wie sich Analyse abspielen soll, ist inhärenter Teil musikalischer Analyse selbst.
Drei Beispiele dafür: (a) Schon Hugo Riemann im 19. Jahrhundert analysiert offenbar (ich müsste die Stelle heraussuchen) in seiner Funktionstheorie eine Sequenz in einer Beethovensonate, stößt dabei auf die inhärenten Probleme der Funktionstheorie mit Sequenzen, diskutiert aber ein "Stufenmuster" gar nicht, sondern gibt stattdessen vier mögliche funktionstheoretische Analysen der Sequenz: Es ist ihm wichtiger, dass sich die (neue) Theorie auch in Grenzfällen behauptet, als sofort aus ihr wieder auszubrechen. (b) Diether de la Motte's "Harmonielehre" von 1971 spricht explizit über ihren neuen Ansatz, Regeln historisch passend herzuleiten und zu besprechen. (c) Oliver Schwab-Felisch untersucht 2010 in der Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie die Idee, "eklektisch" mehrere Analysemethoden zu verknüpfen (wobei dort der Hauptaspekt nicht die harmonische Analyse ist – es wird durchgängig eine Stufennotation verwendent –, sondern vor allem die "Segmentierung" eines Menuett-Satzes einer Haydn-Symphonie).
- Jede präskriptive Herangehensweise, die eine absolute Harmonielehre voraussetzt, kann sich natürlich nicht den jeweiligen Widersprüchen mit den vorhandenen Kompositionen aus mehreren Jahrhunderten entziehen – Bach, Mozart und Duke Ellington halten sich nun einmal nicht an dieselben Regeln. Also müssen die Regeln doch "relativer", zum Beispiel relativ zu Stilrichtungen formuliert werden, verlieren aber ausgerechnet dadurch ihren eindeutig-präskriptiven Charakter.
- Die "real-time"-Anforderung an eine Harmonielehre für den "generativen Zweck" erfordert einerseits, dass sie pädagogisch so einfach wie möglich transportiert und gelernt werden kann, also möglichst viel "über einen Leisten schert". Andererseits entwickelt jeder fortgeschrittene Musiker immer mehr seine eigenen Strukturen, einmal, um seine eigenen Ideen unterzubringen, dann aber auch, um noch "effizienter" bei der Generierung "seiner" oder "ihrer" Musik zu werden. Das führt erkennbar dazu, dass jeder (daran interessierte) Jazzmusiker auf der Suche nach einer eigenen Harmonielehre ist: "Für mich ..." ist der Beginn vieler Sätze in solchen Foren, und die Ablehnung anderer Modelle und insbesondere der – in jungen Jahren heftig umarmten – Einheitstheorie (heutzutage i.d.R. die Akkord-Skalen-Theorie) ist Legion. Drittens wird Harmonielehre aber Jazzmusikern oder auch "Generalbassisten" nicht nur für Improvisationszwecke beigebracht, sondern in denselben (Hoch-)Schulen auch für das Arrangieren und Komponieren – dort aber mischen sich neue Aspekte aus dem "deskriptiven" und "präskriptiven" Zweck ein (man will, um's zu verstehen, einen vorhandenen Big-Band-Satz analysieren; und ein Lehrer will eine entsprechende Prüfung korrigieren), was wieder Änderungen an der ursprünglich "reinen Lehre" nach sich zieht – sie wird komplizierter, und ihre Regeln werden wieder "weicher" und "relativer".
So scheint mir das im Großen und Ganzen zu sein, und das ist alles kein wirkliches Problem, wenn man es beim Lesen und Mitdiskutieren im Hinterkopf behält. Wenn man das allerdings vergisst, dann führt das schon oft dazu, dass Leute aneinander vorbeireden.