Freitag, 15. März 2013

Amuck Rag

Diatonische Tonleiter, chromatische Tonleiter und verminderte Septakkorde habe ich zu kürzeren Ragtimes (oder Ragtime-Artigem) verarbeitet – daraufhin hat sich ein übermäßiger Akkord in meinen Gedanken festgekrallt und wollte auch ge-ragtime-t werden. Ich aber wollte nicht mehr – darauf ist der Akkord Amok gelaufen.



Amuck Rag:
Here ist nun ein Video eines Versuchs von mir, meine eigene Komposition "zu Gehör zu bringen", oder wie man das nennt. So richtig erfolgreich bin ich nicht dabei – wenn jemand es besser zusammenbringt, könnte ich versucht sein, eine kleine Anerkennung an die- oder denjenigen zu senden!


Sonntag, 10. März 2013

A ragtime a day? - noch ein Ragtime

Diatonische Tonleiter, chromatische Tonleiter – was kann man noch als Motiv für eine Ragtime verwenden? Na klar: Gestapelte kleine Terzen:


Hier ist der Diminished Rag. Er ist allerdings ... nun ja ... nicht so wirklich erste Sahne. Aber was soll's? Zuerst erzähle ich – für Leute, die so was interessiert –, wie ich noch mit halbwegs ernsthaftem Bemühen die ersten acht Takte konstruiert habe. Das hat sich ziemlich "harmonisch-technisch" abgespielt. Nachdem ich mir den verminderten Dreiklang auf d vorgegeben hatte, musste damit ja irgendwas passieren. In einer Moll-Tonart lässt sich dieser Akkord einfach in die Tonika auflösen – gesagt, getan! Eine Umkehrung des Zielakkordes bestärkt ihn noch:


Mit dem nun erreichten c kann man (Sequenz! – übliches Ragtime-Muster; und zur Bestärkung eines Motivs nützlich) dasselbe noch einmal wiederholen, also den verminderten Dreiklang im zweiten Takt auf's c setzen:


Plötzlich und unvermutet bin ich nun aber in b-moll! Ich will aber wieder zurück nach c-moll – nur wie? Idee: Das hohe des ist ja Non des Dominantseptnonakkords (was für ein Name) von f-moll – und das ist schon der halbe Weg zurück nach c-moll! Also dieses Patent zweimal anwenden, und das war's.

Im Detail: Wenn man beim Dominantseptnonakkord den Grundton weglässt, hat man "verkürzten Dominantseptnonakkord", was de facto ein weiterer verminderter Dreiklang ist – hier sieht man ihn im letzten Takt auf e:


Noch einmal derselbe Gag: Wir sind am as, das ist die Non von einem G7/9b, und mit irgendeiner Kadenz bin ich dann wieder in c-moll:


Tatsächlich hab ich noch einen weiteren verminderter Akkord vor die Schlusskadenz geschoben (siehe PDF und MIDI weiter unten), weil "Platz war" (man kann den zusätzlichen Akkord schon auch harmonisch erklären, aber wozu?).

Seitenthema: Natürlich in C-Dur (natürlich? Naja – erstens üblich in einigen klassischen Formen; und zweitens soll ein Ragtime schon etwas strahlen, also muss ich weg aus Moll):


Nichts besonderes zu vermerken, außer dass ich mit dem Thema "irgendwohin" abdampfe ... hier beginnt's schon sehr mit der "nicht erste Sahne"-Qualität. Nach ein paar Querelen schaffe ich's ziemlich brutal zurück nach c-moll, und das Anfangsthema kommt wieder kurz dran. Dann allerdings verliert es sich in einer ewigen Folge von verminderten Septakkorden Richtung "irgendwohin" – sowas lässt sich wirklich leicht komponieren (oder muss ich das schon unter Anführungszeichen schreiben: "komponieren"?). Eine doppelte Verkürzung produziert die nötige Schlusssteigerung, einmal retour mit zwei fallenden Akkordzerlegungen (natürlich von verminderten Akkorden), und Schluss!


Hier ist
Wenn ich ehrlich bin, finde ich, ist das ein "Lehrbuchstück", wie man ein ernstzunehmendes Musikstück nicht schreibt – wer will, kann ja einmal Punkte aufschreiben, was alles "falsch" ist. Unter anderem: Es ist grad einmal eine Minute lang, versucht aber in dieser Minute mindestens vier verschiedenen Stimmungen nachzulaufen:
  1. Ragtime
  2. Tango
  3. Menuett
  4. Virtuosenstück
Was könnte man mit dem Stück tun? Einerseits: Es trotzdem spielen – weil's so eine Ansammlung von Verschiedenem ist, ist's vielleicht ganz lustig! Andererseits könnte man es einfach als Steinbruch für Ideen verwenden, die man woanders reinbaut ...

Samstag, 9. März 2013

Ein ganzer Ragtime - Accidental Rag

Im letzten Posting habe ich ja vorgeschlagen, eigene Komponiererei mit Ragtimes zu beginnen: Man kann sich dabei ziemlich einschränken in Bezug auf
  • Harmonien (I-IV-V und ein paar Doppeldominanten), 
  • Begleitmuster (Stride!), 
  • Formen (A-A', A-B-A)
  • und Rhythmus ("Standard-Ragtime-Synkopierungen").
Bei der Stimmführung sollte man ein wenig Wert auf Ansätze einer Bassmelodie legen und Melodiepausen mit kleinen Gegenmelodiestückchen überbrücken ... aber auch nicht zuviel. Einen kleinen Anfang eines Ragtimes hab' ich ja in dem letzten Posting zusammengebaut ...

... aber danach habe ich Lust auf mehr bekommen! Nächste Melodieidee? Statt der diatonischen Tonleiter eine chromatische! Wieder habe ich sie synkopisch zerlegt:

Und dann habe ich mich ans Klavier gesetzt und wollte ein wenig herumprobieren, wie's weitergehen könnte. Ich wollte eigentlich im Bass "ganz gerade" mit einem tiefen c fortsetzen – aber ich war zu tapsig und bin auf's e neben dem f gerutscht: Und so ist die nachfolgende Bass- und Melodieführung entstanden:
Wegen des "Unfalls mit dem e" hat der Ragtime auch seinen Namen bekommen: Accidental Rag. Erst später ist mir aufgefallen, dass das Notenbild wegen der chromatischen Tonleitern auch ziemlich voll mit Vorzeichen ist, die auf englisch "accidentals" heißen, sodass der Name auch deshalb passt!

Eine einfache Überleitung moduliert für's zweite Thema nach A-Dur:

Als zweites Thema hat der Ragtime eines bekommen, dass nicht steigt und fällt, sondern fällt und steigt (Basslauf). Wegen der A-Dur versteige ich mich hier sogar zu einem fisis mit Doppelkreuz ... das könnte man mit etwas mehr Auflösungszeichen auch als g notieren, aber so ist es formal korrekt:
Das Thema wird in der Wiederholung leicht variiert, wobei man nicht an Weichheit verlieren darf. Danach folgt wieder das erste Thema, das dann aber ohne Wiederholung ziemlich schnell in eine Coda mündet, die den alten Trick der Dreifachwiederholung am Ende herauszieht (den's zumindest bei Mozart schon gibt) und dann ganz schnell endet.

Den ganzen Ragtime kann man sich hier herunterladen:
  • Als PDF
  • Als MIDI. Leider ist das MIDI-File zu "grob": Da muss man mehr an Gesanglichkeit reinstecken.
  • ... und nun gibt's auch eine Aufnahme davon auf youtube – ich habe ihn des Vergnügens halber auf einer Kirchenorgel gespielt. Die Aufnahme ist allerdings nur als "Demo" zu verstehen, d.h. sie hat eher minimale Qualität:

Komponieren lernen? - womit könnte man anfangen?

Wenn man komponieren will, dann schadet es sicher nicht, sich an "kleineren Fingerübungen" zu versuchen. In der klassischen Kompositionsausbildung waren das wohl millionenfache Menuette, die da mit oder ohne Trios zusammengebaut wurden. Heutzutage wollen viel mehr Leute komponieren, was man "U-Musik" nennt – aber wenn es dann weiter "größere" (vom Umfang her oder vom Anspruch her) Kompositionen gehen soll, dann wünscht man sich auch einen größeren Vorrat vor allem an Harmonien, Formen oder Instrumenten. Bei ersten Stücken allerdings sind möglichst viele vorgegebene Entscheidungen hilfreich, um nicht von der "Freiheit erschlagen zu werden". Trotzdem soll natürlich etwas herauskommen können, was man sich anhören kann.

Ich mache einmal Vorschlag, der vielleicht jemandem hilft, sich schmerzloser der Komponiererei zu nähern: Ragtimes. Der bekannteste Ragtime ist sicherlich Scott Joplins "Entertainer", der als Titelmelodie des Films "Der Clou" wieder bekannt gemacht wurde (der Soundtrack mit Melodien von Scott Joplin erhielt übrigens einen Oscar). Die Cantina-Musik von John Williams aus dem ersten Star-Wars-Film ist – mit ihrer synkopierten ersten Melodie – auch ein Ragtime, der allerdings aus den Standardharmonien der alten Ragtimes weit ausbricht. Und obwohl Ragtimes eigentlich schon seit 100 Jahren außer Mode sind, scheint diese Art von Musik doch so attraktiv zu sein, dass nahezu in jeder zweiten Folge der "Clone Wars" auch irgendeine Band vorkommt, die Synkopen-Musik spielt ...

Bevor man sich selber an einen Ragtime macht, sollte man sich schon einige solche Stücke anhören. Warren Trachtman bietet auf seiner Website die MIDIs von hundert oder mehr Ragtimes an, und auf youtube kann man sie sich sicher auch in Massen anhören. Ich habe allerdings bemerkt, dass sich nach dem Hören von mehr als 10 oder 15 Ragtimes mein Kopf "verklebt" – man sollte also mit dem Anhören aufhören, bevor man so weit ist.

Hier ist ein "Kochrezept", um einen Ragtime zusammenzuschrauben – gedacht für das typische Ragtime-Instrument, also das Klavier:
  1. Man nehme eine Melodieidee und versehe sie mit genügend Synkopen.
  2. Als Begleitung nimmt man einen einfachen Stride auf Tonika und Dominante; in der Schlussfigur macht sich eine Doppeldominante (Septakkord auf der zweiten Stufe) ganz gut.
  3. Als Form beginnt man mit der einfachsten "Liedform": a – a' mit Schluss, also Melodie plus noch einmal veränderte Melodie.
  4. Wenn die erste Version steht, kümmert man sich um zwei zusätzliche Stimmführungen: die "Bassmelodie", also die Folge der Basstöne der Begleitung; und kleine Gegenmelodiestücke, die man zumindest in den Pausen der Hauptmelodie unterbringt.
  5. Die Form lässt sich dann erweitern zu einer dreiteiligen Liedform (A-B-A) mit einer markant anderen zweiten Melodie; oder sogar zu beliebig langen "Ragtime-Rondos" A-B-A-C-A-D-... – allerdings sollte man übungshalber wohl lieber kurze Stücke schreiben, dafür lieber mehr.
  6. Fertig.
Fertig? Und wie geht das jetzt genau? Ich fürchte, hier muss (müsste) der persönliche Unterricht einsetzen: Denn ja nachdem, wo man nicht mehr weiterkommt, braucht man dort Anleitung, Hilfe, aber vor allem auch Übung. Der Knackpunkt der Sache ist und bleibt jedenfalls die Harmonisierung, also der zweite Schritt: Sie muss korrekt sein – und das muss man können und hören können. Wie man das lernt, wenn man's noch nicht kann, weiß ich eigentlich nicht – bei meinen Kindern merke ich, dass unendlich langes Blues- und Boogie-Klimpern zu einer Verfestigung der üblichen Harmonien führt, mit zaghaften "Ausbruchsversuchen": Das ist, für Klavier- und Keyboardspieler, sicher eine wichtige Sache. Wie's andere lernen, insbesondere die Spieler von einstimmigen Instrumenten (dazu gehört auch die Singstimme), weiß ich leider nicht – vielleicht erklärt mir das einmal ein solcher ...

Andererseits kann man, wenn man das will, die einfache Harmoniefolge wie im Jazz dazu benutzen, um Substitutionen noch und nöcher auszuprobieren – immerhin ist der Ragtime ja eine der wichtigen Grundlagen des Jazz, und neben dem notierten Ragtime ist immer schon der improvisierte dagewesen, der einen Klavierspieler je nach Wagemut mehr oder weniger weit weg von I-IV-V(-II)-Harmonien führt. Eine Tritonus-Substitution geht dabei allerdings, wenn man dem Stil eines "alten Ragtime" treu bleiben will, vermutlich zu weit – aber alle "normaleren" Substitutionen kann man jedenfalls versuchen (und zum Beispiel im Entertainer den F-Akkord im dritten Takt durch einen Dm7 ersetzen?!).

Damit dieses Posting nicht vollkommen ohne Noten bleibt, bastle ich hier "zum Zuschauen" noch einen Ragtime zusammen.

Die Idee zur Melodie (einmal rauf und runter) hab ich mir eine halbe Minute vor der S-Bahn-Abfahrt "überlegt", den Rest baue ich nach meinem inneren Gehör zusammen. Wer das (noch) nicht kann, probiert am Klavier (oder auf seinem Instrument – bei einstimmigen wird's aber, wie gesagt, wohl schwierig). Melodie: Nehmen wir einfach eine Tonleiter rauf und runter:
Damit es ein Ragtime wird, versehen wir sie mit einem Ragtime-typischen Rhythmus – verschiedener Rhythmus für die beiden Takte ist besser als gleicher! Hinten kleben wir eine Note an, damit der zweite Takt voll wird:
Dann bauen wir einen Standard-Stride drunter:
Wie geht es weiter? Entweder man erfindet die Melodie weiter – im trivialsten Fall als Sequenz, von der man "irgendwie abzweigt":
Aber man kann auch den Bass fortführen: Und wenn schon so, kann man gleich vom langweiligen Stride etwas abweichen und eine "Bassmelodie" erfinden. Im letzten Takt steht übrigens als Hinleitung zum Septakkord diese Doppeldominante "DD7":
Wenn man den Bass als "Input" nimmt, muss sich nun aber dazu eine Melodie ergänzen – "wohin auch immer die Finger laufen" (im Kopf oder auf der Tastatur):
Das kann man jetzt so lassen – erster Teil "fertig". Oder man packt ein wenig Schul-Stimmführungsregeln aus und baut – nur der Übung halber – ein paar gröbere Schnitzer aus:
  • Bei [1] haben wir eine schöne eingesprungene Oktave (beide Stimmen gehen von unten zu einem f); mögliche Korrektur: Obere Stimme springt statt auf's f bis auf's a, dann "irgendwie zurück". Andere Möglichkeit: a statt c als erste Note im Takt. Das hat neben der Gegenbewegung von Begleitung und Melodie auch den netten Effekt, nach der simplen Tonleiter rauf und runter einen unerwartet hohen Ton einzuführen.
  • Bei [2] eingesprungene Quinte (Stimmen gehen parallel zu c+g); mögliche Korrektur: im Bass e statt c.
  • Bei [3]: Das d# muss im weiteren zum e auflösen. Wenn wir aber das Motiv aus dem ersten Takt wiederholen, beginnt dort die Melodie mit c! Mögliche Korrekturen: Motiv um eine Terz verschoben wiederholen; oder das d#" durch ein g" ersetzen.
Hier ist eine solche Korrekturversion. Die roten Noten sind die, die wegen der Kritikpunkte von vorher angepasst worden sind. Hinten habe ich einen A'-Teil angehängt, der wieder zurück zur Tonika findet. Im Takt 6 ist die Einführung einer neuen Harmonie auf den leichten Taktteil der Stridebegleitung ziemlich zweifelhaft – sie rechtfertigt sich aber durch die a-moll-Auflösung und die akkordische Begleitung im Takt 7: Hier kann man beliebig diskutieren, wie "richtig" das ist. Aber deshalb gibt's ja auch einen "verantwortlichen Komponisten": Wenn er oder sie sagt, dass das so bleibt, dann bleibt es so.
Wie's weitergeht? Ehrlich gesagt, hänge ich jetzt: Das Thema hat kaum Pausen, deshalb gibt es keine einfache Möglichkeit für eingeschobene Gegenmelodiestückchen; bei einem Satz für Bläser könnte eine ruhige Holzbläser-Mittelstimme eingeschoben werden, aber am Klavier wär' das ziemlich komisch. Ich lass es einmal dabei.

Machen wir jetzt eine harmonische Analyse von dem Stück(chen)? Nein – nichts da! Wir wollen komponieren, nicht analysieren!! Aber wozu ist dann dieses ganze Harmonielehre- und Stimmführungswissen, das ein/e Komponist/in haben muss? Ich sag es noch einmal: Muss sie oder er nicht! Wenn man es hat, hilft es einem, wie oben Stellen "umzukonstruieren" – weil sie "falsch" sind (gegen irgendeine Regel verstoßen, die man einhalten möchte), oder weil sie zu wenig interessant sind (dann kann man eben doch einmal eine Tritonus-Substitution anzuwenden versuchen).

Aber viel wichtiger ist, dass man die "richtigen" und "falschen" Harmonien und Harmoniefolgen hört – dass man die Harmoniemuster "kann" (nicht "weiß")! Und entweder kann man das sowieso ganz gut – viele Leute können es! – nämlich alle die, die Fehler "einfach so" hören können, wenn jemand anderer ein "üblich harmonisiertes" Stück spielt. Oder man muss es sich aneignen. Ich glaube (aber da bin ich mir keineswegs sicher), dass enorm viel Anhören von "klar gestrickter" Musik diese "Muster" in den Kopf kriegt. Meine Auswahl wären in erster Linie Strauß-Walzer und -Polkas (was man beim Neujahrskonzert hört), Ragtimes, Blues und Boogie, dann auch Volksmusik (wenn sie einem liegt) und wenn man unbedingt will hin und wieder am Anfang (nur zum Harmonien hören lernen!!) irgendein Gedudel von volkstümlicher Musik. Beatles-Songs gehören nicht dazu – die sind harmonisch und vor allem von der Stimmführung her viel zu kompliziert (mit Ausnahme vom Hauptteil von "When I'm 64").

Mittwoch, 6. März 2013

Komponieren lernen?

Ich bin kein Komponist – oder bin ich einer? – denn seit einiger Zeit komponiere ich hin und wieder. Weil ich ab und zu bei uns Gottesdienste auf der Orgel begleite, konzentrier ich mich (momentan?) auf mittelkurze Orgelstücke, die ich nach einigem Üben dort als Anfangs- oder Schlussstück aufführen kann, wenn ich will. Mindestens die Hälfte meiner Kompositionen ist mir aber zu schwer, oder sie passen partout nicht in die Kirche. Vielleicht stell ich manche Stücke hier einmal her.

Ich erzähle gleich, was Komponieren für mich ist – und zwar deshalb, weil ich gestern ein paar Dutzend Postings in diversen Foren gelesen habe, wo Leute die übliche Frage stellen, die ich mir auch stelle: Wie lernt man komponieren?

Etwa in der Hälfte der Fälle ist die Frage: "Mir fallen (in der U-Bahn, in durchwachten Nächten, am Klo) immer so gute Melodiestücke ein – nur wie mache ich draus eine richtige Komposition?" Die andere Hälfte fragt noch genereller: "Wie fange ich zu komponieren an?"

Die Antworten sind meistens entweder "Tu's einfach" (was dem Fragesteller, meine ich, überhaupt nicht weiterhilft – er oder sie hat ja eben gerade ein Problem mit dem "Tun"); oder Versuche einer Einführung in eine dreiklang-basierte Harmonielehre. Letzteres ist nicht hilfreich, weil man damit entweder die Frager verschreckt (Harmonielehre, noch dazu am Papier und ohne Instrument, ist enorm schwer); oder weil sie eh einen genügend großen Ausschnitt davon können – und dann feststellen, dass dieses Können beim Komponieren-Anfangen näherungsweise nichts hilft.

Wie geht also eine bessere Antwort?

Es gibt da ein Buch, an dem sich die Geister scheiden: Diether de la Motte's "Wege zum Komponieren". Die (nicht allzu vielen) Kritiken am Internet sagen zu zwei Drittel "katastrophal, Kinderbuch, was soll das?", zu einem Drittel "so geht es" (mit mehr oder weniger Qualifizierungen). Ich finde, dass man das Buch zur Hand nehmen sollte – allerdings muss man wissen, wie man damit umgeht: Und leider gibt de la Motte dafür überhaupt keine Erklärung. Obwohl ich ein millionenfach kleineres Licht als de la Motte bin, versuche ich hier zu erklären, was Komponieren ist.
Vielleicht hilft es ja jemand, bei dieser Frage – oder eigentlich auf diesem Weg – "Wie lerne ich komponieren?" ein Stück weiter zu kommen.

Ich mache es, wie man das so macht, mit einem Gleichnis: Und zwar vergleiche ich Komponieren mit Architektur. Der Vergleich wird natürlich irgendwo zu hinken beginnen, aber er trägt schon eine ziemliche Zeit, finde ich. Ich mach's gleich systematisch: In der folgenden Tabelle steht links ein Text über Architektur; rechts stehen die Entsprechungen aus der Musik. Wie soll man das lesen? Vielleicht links runter, mit einem Blick auf die rechte Seite ... oder auch immer abwechselnd, links-rechts-links-rechts ...

Architektur ist die Kunst, ein Gebäude zu planen. Das Ergebnis der Tätigkeit ist ein Plan – das Gebäude muss dann jemand anderer bauen, aber das interessiert uns hier nicht mehr. Komponieren ist die Kunst, ein Musikstück zu schreiben. Das Ergebnis der Tätigkeit ist eine Partitur (üblicherweise "Noten") – das Stück kann dann jemand anderer aufführen, aber das interessiert uns hier nicht mehr.
Ein Gebäude plant man für jemand – irgendwer soll das Gebäude zufrieden benutzen können: In einem Wohnhaus wohnen, in einer Fabrik produzieren, in einer Kirche Andacht halten. Ein Musikstück schreibt man für bestimmte Zuhörer – ein Filmpublikum, "Kids", für einen selber. Der oder die Zuhörer sollen damit "zufrieden" sein: Es soll ihren Erwartungen entsprechen, aber auch "mehr sein" als alle bisherigen Songs oder Opern oder Soundtracks, die sie bisher gehört haben.
Man kann mit der Planung eines Hauses beginnen, indem man eine Idee für einen Teil des Hauses hat: Ein Wohnzimmer, wie sich das eine vierköpfige Familie schon immer gewünscht hat! Eine genial flexible Anordnung von Büros! Eine Bibliotheks- oder Museumsfassade, die alle anlockt und zum Verweilen einlädt! Man kann mit dem Komponieren eines Musikstücks beginnen, indem man eine Idee für eine Melodie oder für eine Basslinie oder einen Text hat.
Aus dieser Idee und um diese Idee kann man einiges weitere "hervorkitzeln" ...
... aber tatsächlich gehört zur Planung eines Hauses doch viel mehr – nämlich sowohl Handfestes als auch Künstlerisches, zum Beispiel
  • Wissen über Statik
  • Wissen über Baumaterialien
  • Wissen über Kosten und Bautechnik
  • Wissen über Stilrichtungen
– und immer wieder Wissen darüber: Was hat sich bewährt, was hat sich nicht bewährt?
... aber tatsächlich gehört zum Komponieren eines Stückes doch viel mehr – sowohl Handfestes als auch Künstlerisches, zum Beispiel
  • Wissen über Formen
  • Wissen über Klänge, Instrumente und Singstimme
  • Wissen über Harmonien
  • Wissen über Stilrichtungen
– und immer wieder Wissen darüber: Was hat sich bewährt, was hat sich nicht bewährt?
Heißt das nun, dass Architekten alles das und noch viel mehr bis ins Detail beherrschen müssen? Nein! Nichts davon ist unbedingt nötig!

Meine Mutter hat beide Häuser geplant, in denen wir gewohnt haben – ohne Wissen über Statik, aber mit viel Wissen darüber, was eine Familie braucht. Für den "Rest" hat sie einfache, übliche Lösungen vorgesehen: Senkrechte Ziegelwände (keine auskragenden Eckträger!), ziegelgedecktes Sattel- oder Walmdach (kein pflanzenbewachsenes Flachdach); und natürlich hat sie Wissende gefragt, wo's aus ihrer Sicht nötig war. Dass dadurch nichts Herausragendes oder Großartiges entstand, ist klar: Aber dafür war es das richtige Haus an dieser Stelle und für diesen Zweck.
Heißt das nun, dass man zum Komponieren alles das und noch viel mehr bis ins Detail beherrschen muss? Nein! Nichts davon ist unbedingt nötig!

Einfache, übliche Lösungen können Fachwissen oder Interesse ersetzen. Was ist gegen eine ABA-Liedform einzuwenden? Warum nicht Standardakkorde verwenden, die einem gefallen? Dass dadurch nichts Herausragendes oder Großartiges entsteht, ist klar: Aber dafür ist es das richtige Stück an dieser Stelle und für diesen Zweck. Und im Gegensatz zu Gebäuden kann man im Jahr zehn oder hundert oder noch mehr Stücke komponieren – also kann man noch viel mehr "mit sich selbst experimentieren"!
Aber ... ich bin oben zu schnell über das Finden von guten Ideen hinweggangen: Ist diese Wohnzimmer- oder Büro- oder Fassadenidee wirklich so gut? – da kommen einem dann bald Zweifel. Vor allem auch, weil die Idee durch die nachfolgende "Einbettung" ins ganze Haus sich ja verändert:
  • Direkt, weil sie wegen Platz- oder Technik- oder Kostenzwängen angepasst werden muss.
  • Aber auch schon "indirekt", weil sie einfach dadurch, dass sie in einen Kontext gestellt wird, sich behaupten muss – und da sieht sie vielleicht doch nicht mehr so gut oder neu aus: Die "cool-einfache" Fassadenidee wirkt bei zig-facher Wiederholung am großen Bürogebäude wie ein Gefängnis; die geniale Anlage des großen Wohnzimmers zwingt zur Verlegung der Küche in den Keller.
Aber ... ich bin oben zu schnell über die das Finden von guten Ideen hinweggangen: Ist diese Melodie- oder Bassidee wirklich so gut? – da kommen einem dann bald Zweifel. Vor allem auch, weil die Idee durch die nachfolgende Verquickung mit anderen Stimmen und Instrumenten, durch die "Einbettung" in eine längere Form (Sonate? Jam-Session?) sich ja verändert.
  • Direkt, weil sie wegen Harmonie- oder Spielzwängen angepasst werden muss.
  • Aber auch schon "indirekt", weil sie einfach dadurch, dass sie in einen Kontext gestellt wird, sich behaupten muss – und da sieht sie vielleicht doch nicht mehr so gut oder neu aus: Die schrägen Tonarten-Übergänge in der Melodie lassen sich nicht im gewünschten Stil oder mit den eigenen Fähigkeiten harmonisieren; die weit ausladende Steigerung zum grandiosen Finale ist für den 3-Minuten-Brick-Film absolut übertrieben!
Klar – man kann die Idee wegwerfen.
Aber so schlecht war sie ja nicht – im Gegenteil, sie ist einem ja sogar so gut erschienen, dass man eben daraus was Großes machen wollte!
Offenbar gibt es da noch etwas, was man können sollte: "Mit Ideen umgehen". Ideen hervorrufen, Arten von Ideen gern haben, Ideen ändern, umbauen, modifizieren – so, dass etwas Neues bleibt, sich anderes ändert: "Spielen mit Ideen", aber auch "Arbeiten mit Ideen". Der Unterschied ist: Beim Spielen erlaubt man sich ohne Kritik, "aus dem Bauch heraus", intuitiv an seinen Ideen herumzuwerke(l)n; beim Arbeiten geht man rational, mit "Ideen über Ideen" an seine Ideen.
Ein Teil dieses "Arbeitens mit Ideen" hat mit dem "Erlernen von Phantasie" zu tun – über den Tellerrand hinauszuschauen: Ein Baum, ein Zaun, ein Ameisenhaufen, eine Wolke, sogar eine Software ("straight line code" = "assembly line") oder eine Organisation ("Trennung der Gewalten" = "Verantwortungsbereiche") können Ideen über Gebäude anregen – nicht als fertige Pläne: Aber zumindest als Metaphern, vielleicht aber doch auch als konkrete Elemente in einem Gebäude.Ein Teil dieses "Arbeitens mit Ideen" hat mit dem "Erlernen von Phantasie" zu tun – über den Tellerrand hinauszuschauen: Ein Geräusch, ein Gespräch, eine Tätigkeit, sogar ein Geruch ("scharf und aufregend") oder eine Organisation ("Trennung der Gewalten" = "Trennung der Stimmen") können Ideen über ein Musikstück anregen – nicht als fertige Partitur: Aber zumindest als Metaphern, vielleicht aber doch auch als konkrete Elemente in einem Musikstück.
Ein anderer Teil des "Arbeitens mit Ideen" hat mit der "Kreuzbefruchtung" der Teildisziplinen zu tun: Die Statik, die Baumaterialien, die Nutzung oder die Kosten können bestimmte Formen bevorzugen, die dann als genuine Stilelemente entwickelt werden können: "Form follows function", Sichtbeton, offene Dachstühle sind solche "Grenzüberschreitungen", die mir (als absolutem Architekturlaien) einfallen. Ein anderer Teil des "Arbeitens mit Ideen" hat mit der "Kreuzbefruchtung" der Teildisziplinen zu tun: Die Harmonik, die Instrumente, die Formenlehre können bestimmte Muster bevorzugen, die dann als genuine Stilelemente entwickelt werden können: Liedform nicht nur im kleinen (wo das Wiederholen von musikalischen Motiven uns allen selbstverständlich ist), sondern im ganz großen; Harmonien, die Stimmführung induzieren und umgekehrt (was man bei Bach, aber auch in jeder Jam-Session feststellen kann); Rhythmus als Melodiegeber, Instrumenten- und Stimmgrenzen als Stilelemente (Countertenöre, Naturtonhorn, ethnische Instrumente im Jazz) sind solche "Grenzüberschreitungen", die mir einfallen.
Ein dritter Teil des "Arbeitens mit Ideen" ist das kritische Verbessern von Ideen. Man kann nicht viel anderes sagen als "interessantere Ideen sind interessanter": Ideen und Elemente, die noch nicht da waren, die man nicht kennt, haben einen "Wert an sich". Einer Idee ihre "trivialen Anteile auszutreiben", sie "interessant zu machen durch die 'richtige' Mischung aus Klarheit und Überraschungen, Vertrautem und Neuem, Verstehbarem und Grenzüberschreitendem – darum geht's.
Und nur dieses Arbeiten mit Ideen ist der Inhalt von de la Motte's "Wege zum Komponieren": Das Buch heißt nicht umsonst so – nicht "Wege des Komponierens" oder "Methoden des Komponierens" oder so. Das ist auch "alles", was es leistet: Jemanden, der auf der "Suche nach der Suche nach Ideen" ist, Wege (Plural!) zu zeigen – von denen man den einen oder anderen gehen kann (ich will irgendwann Rondos komponieren), viele aber sicher nicht gehen wird (Geräusche? neue Klänge? interessieren mich nicht sehr – obwohl ich da ein schlechtes Gewissen dabei habe: Denn muss sich ein Komponist damit nicht beschäftigen?); und auf diesen Wegen das "Schärfen von Ideen" zu lernen (daher sein Insistieren auf dem Radiergummi – ich bin mit der Delete-Taste zufrieden).

Ich versuch es noch einmal zusammenzufassen: Komponieren kann man – wie jede interessante kreative Tätigkeit: Kunst, aber auch Ingenieursdisziplinen oder alles, was mit Menschen zu tun hat – als Zusammenwirken von zwei Bereichen sehen: Ideen; und Methoden.
  • Die Methoden sind viele, und sie lassen sich aufschlüsseln nach einem "Kanon", der sich in den letzten Jahrhunderten entwickelt hat. Viele Methoden kann man lernen – aber man muss keine einzige beherrschen; ein paar davon sollte man jedoch "sein Eigen nennen": sie können; und können wollen; und darin mit Vergnügen besser werden.
  • Ideen hat man immer wieder – nur soll man an seinen Ideen auch arbeiten: Neue aus sich rauskitzeln können; und wenn sie da sind, sie "schärfen" = verbessern nach den Maßstäben, die man selbst und dann wohl auch die intendierten Zuhörer daran anlegen werden.
Weil ein Musikstück so viele Dimensionen hat, muss man sich in den Anfängen des Komponierens entlang vieler dieser Dimensionen einschränken:
  • Vielleicht nur bestimmte (kurze) Formen wählen – Vorschläge: Strophe+Refrain, Liedformen;
  • Vielleicht nur bestimmte Gruppen von Klängen wählen – Vorschläge: einige übliche Instrumente (zumindest jene/s, das oder die man selber spielt), einige Sample-Libraries;
  • Vielleicht nur bestimmte Arten von Harmonien verwenden – Vorschlag: die, mit denen man sich wohlfühlt; die man auf seinem Instrument kann;
  • Vielleicht am Anfang nur Textvertonungen – Texte "erzeugen" oft Musik(ideen);
  • Vielleicht nur bestimmte Arten des "Notierens", mit Klavier+Papier; oder Notenprogramm ohne Abspielen (mein Weg); oder Einspielen und Abspeichern mit einem Synthesizer (in unseren modernen Zeiten ist "Abspeichern" auch eine Form von "Notieren") – Vorschlag: Sich auf eine Methode festlegen und mindestens ein paar Wochen dabei bleiben, weil jede Methode insofern anstrengend ist, als man mit ihren jeweiligen Problemen irgendwie umgehen muss (Abspeichern ist z.B. schwer punktuell änderbar - "diese Bassfigur ohne Quinte, und dreimal statt zweimal wiederholt"? Papier kann man so schwer abspielen, wenn einem danach ist; Notenprogramm braucht lang zum Notieren von "Selbstverständlichem").
Und wenn man sich da bewusst festgelegt hat, dann kann man mit allen anderen Dimensionen spielen – den üblichen: Melodie, Rhythmus, Harmonien, Tempi; und anderen: Text, Aufführungsart ("im Freien zu spielen") oder was immer.

So geht das mit dem Komponieren-Lernen.

Wenn jemand nun wieder erwartet hat, dass hier was steht über Harmonisieren, Einspielen von Stücken, Instrumentieren oder gar Aufführung selbstkomponierter Stücke, dann versteht er oder sie jetzt, dass alle diese Dinge zwar zum Komponieren gehören – dass das aber keine dieser Tätigkeiten Komponieren "ist":

Komponieren ist, in jedem dieser Bereiche aus den unendlichen Möglichkeiten auszusuchen; dieses Aussuchen, dieses Entscheiden kann man aber nicht geradeaus lernen, so wenig wie man lernen kann, den richtigen Freund oder die richtige Freundin auszusuchen; und überhaupt die richtigen Entscheidungen im Leben zu treffen.