Mittwoch, 6. März 2013

Komponieren lernen?

Ich bin kein Komponist – oder bin ich einer? – denn seit einiger Zeit komponiere ich hin und wieder. Weil ich ab und zu bei uns Gottesdienste auf der Orgel begleite, konzentrier ich mich (momentan?) auf mittelkurze Orgelstücke, die ich nach einigem Üben dort als Anfangs- oder Schlussstück aufführen kann, wenn ich will. Mindestens die Hälfte meiner Kompositionen ist mir aber zu schwer, oder sie passen partout nicht in die Kirche. Vielleicht stell ich manche Stücke hier einmal her.

Ich erzähle gleich, was Komponieren für mich ist – und zwar deshalb, weil ich gestern ein paar Dutzend Postings in diversen Foren gelesen habe, wo Leute die übliche Frage stellen, die ich mir auch stelle: Wie lernt man komponieren?

Etwa in der Hälfte der Fälle ist die Frage: "Mir fallen (in der U-Bahn, in durchwachten Nächten, am Klo) immer so gute Melodiestücke ein – nur wie mache ich draus eine richtige Komposition?" Die andere Hälfte fragt noch genereller: "Wie fange ich zu komponieren an?"

Die Antworten sind meistens entweder "Tu's einfach" (was dem Fragesteller, meine ich, überhaupt nicht weiterhilft – er oder sie hat ja eben gerade ein Problem mit dem "Tun"); oder Versuche einer Einführung in eine dreiklang-basierte Harmonielehre. Letzteres ist nicht hilfreich, weil man damit entweder die Frager verschreckt (Harmonielehre, noch dazu am Papier und ohne Instrument, ist enorm schwer); oder weil sie eh einen genügend großen Ausschnitt davon können – und dann feststellen, dass dieses Können beim Komponieren-Anfangen näherungsweise nichts hilft.

Wie geht also eine bessere Antwort?

Es gibt da ein Buch, an dem sich die Geister scheiden: Diether de la Motte's "Wege zum Komponieren". Die (nicht allzu vielen) Kritiken am Internet sagen zu zwei Drittel "katastrophal, Kinderbuch, was soll das?", zu einem Drittel "so geht es" (mit mehr oder weniger Qualifizierungen). Ich finde, dass man das Buch zur Hand nehmen sollte – allerdings muss man wissen, wie man damit umgeht: Und leider gibt de la Motte dafür überhaupt keine Erklärung. Obwohl ich ein millionenfach kleineres Licht als de la Motte bin, versuche ich hier zu erklären, was Komponieren ist.
Vielleicht hilft es ja jemand, bei dieser Frage – oder eigentlich auf diesem Weg – "Wie lerne ich komponieren?" ein Stück weiter zu kommen.

Ich mache es, wie man das so macht, mit einem Gleichnis: Und zwar vergleiche ich Komponieren mit Architektur. Der Vergleich wird natürlich irgendwo zu hinken beginnen, aber er trägt schon eine ziemliche Zeit, finde ich. Ich mach's gleich systematisch: In der folgenden Tabelle steht links ein Text über Architektur; rechts stehen die Entsprechungen aus der Musik. Wie soll man das lesen? Vielleicht links runter, mit einem Blick auf die rechte Seite ... oder auch immer abwechselnd, links-rechts-links-rechts ...

Architektur ist die Kunst, ein Gebäude zu planen. Das Ergebnis der Tätigkeit ist ein Plan – das Gebäude muss dann jemand anderer bauen, aber das interessiert uns hier nicht mehr. Komponieren ist die Kunst, ein Musikstück zu schreiben. Das Ergebnis der Tätigkeit ist eine Partitur (üblicherweise "Noten") – das Stück kann dann jemand anderer aufführen, aber das interessiert uns hier nicht mehr.
Ein Gebäude plant man für jemand – irgendwer soll das Gebäude zufrieden benutzen können: In einem Wohnhaus wohnen, in einer Fabrik produzieren, in einer Kirche Andacht halten. Ein Musikstück schreibt man für bestimmte Zuhörer – ein Filmpublikum, "Kids", für einen selber. Der oder die Zuhörer sollen damit "zufrieden" sein: Es soll ihren Erwartungen entsprechen, aber auch "mehr sein" als alle bisherigen Songs oder Opern oder Soundtracks, die sie bisher gehört haben.
Man kann mit der Planung eines Hauses beginnen, indem man eine Idee für einen Teil des Hauses hat: Ein Wohnzimmer, wie sich das eine vierköpfige Familie schon immer gewünscht hat! Eine genial flexible Anordnung von Büros! Eine Bibliotheks- oder Museumsfassade, die alle anlockt und zum Verweilen einlädt! Man kann mit dem Komponieren eines Musikstücks beginnen, indem man eine Idee für eine Melodie oder für eine Basslinie oder einen Text hat.
Aus dieser Idee und um diese Idee kann man einiges weitere "hervorkitzeln" ...
... aber tatsächlich gehört zur Planung eines Hauses doch viel mehr – nämlich sowohl Handfestes als auch Künstlerisches, zum Beispiel
  • Wissen über Statik
  • Wissen über Baumaterialien
  • Wissen über Kosten und Bautechnik
  • Wissen über Stilrichtungen
– und immer wieder Wissen darüber: Was hat sich bewährt, was hat sich nicht bewährt?
... aber tatsächlich gehört zum Komponieren eines Stückes doch viel mehr – sowohl Handfestes als auch Künstlerisches, zum Beispiel
  • Wissen über Formen
  • Wissen über Klänge, Instrumente und Singstimme
  • Wissen über Harmonien
  • Wissen über Stilrichtungen
– und immer wieder Wissen darüber: Was hat sich bewährt, was hat sich nicht bewährt?
Heißt das nun, dass Architekten alles das und noch viel mehr bis ins Detail beherrschen müssen? Nein! Nichts davon ist unbedingt nötig!

Meine Mutter hat beide Häuser geplant, in denen wir gewohnt haben – ohne Wissen über Statik, aber mit viel Wissen darüber, was eine Familie braucht. Für den "Rest" hat sie einfache, übliche Lösungen vorgesehen: Senkrechte Ziegelwände (keine auskragenden Eckträger!), ziegelgedecktes Sattel- oder Walmdach (kein pflanzenbewachsenes Flachdach); und natürlich hat sie Wissende gefragt, wo's aus ihrer Sicht nötig war. Dass dadurch nichts Herausragendes oder Großartiges entstand, ist klar: Aber dafür war es das richtige Haus an dieser Stelle und für diesen Zweck.
Heißt das nun, dass man zum Komponieren alles das und noch viel mehr bis ins Detail beherrschen muss? Nein! Nichts davon ist unbedingt nötig!

Einfache, übliche Lösungen können Fachwissen oder Interesse ersetzen. Was ist gegen eine ABA-Liedform einzuwenden? Warum nicht Standardakkorde verwenden, die einem gefallen? Dass dadurch nichts Herausragendes oder Großartiges entsteht, ist klar: Aber dafür ist es das richtige Stück an dieser Stelle und für diesen Zweck. Und im Gegensatz zu Gebäuden kann man im Jahr zehn oder hundert oder noch mehr Stücke komponieren – also kann man noch viel mehr "mit sich selbst experimentieren"!
Aber ... ich bin oben zu schnell über das Finden von guten Ideen hinweggangen: Ist diese Wohnzimmer- oder Büro- oder Fassadenidee wirklich so gut? – da kommen einem dann bald Zweifel. Vor allem auch, weil die Idee durch die nachfolgende "Einbettung" ins ganze Haus sich ja verändert:
  • Direkt, weil sie wegen Platz- oder Technik- oder Kostenzwängen angepasst werden muss.
  • Aber auch schon "indirekt", weil sie einfach dadurch, dass sie in einen Kontext gestellt wird, sich behaupten muss – und da sieht sie vielleicht doch nicht mehr so gut oder neu aus: Die "cool-einfache" Fassadenidee wirkt bei zig-facher Wiederholung am großen Bürogebäude wie ein Gefängnis; die geniale Anlage des großen Wohnzimmers zwingt zur Verlegung der Küche in den Keller.
Aber ... ich bin oben zu schnell über die das Finden von guten Ideen hinweggangen: Ist diese Melodie- oder Bassidee wirklich so gut? – da kommen einem dann bald Zweifel. Vor allem auch, weil die Idee durch die nachfolgende Verquickung mit anderen Stimmen und Instrumenten, durch die "Einbettung" in eine längere Form (Sonate? Jam-Session?) sich ja verändert.
  • Direkt, weil sie wegen Harmonie- oder Spielzwängen angepasst werden muss.
  • Aber auch schon "indirekt", weil sie einfach dadurch, dass sie in einen Kontext gestellt wird, sich behaupten muss – und da sieht sie vielleicht doch nicht mehr so gut oder neu aus: Die schrägen Tonarten-Übergänge in der Melodie lassen sich nicht im gewünschten Stil oder mit den eigenen Fähigkeiten harmonisieren; die weit ausladende Steigerung zum grandiosen Finale ist für den 3-Minuten-Brick-Film absolut übertrieben!
Klar – man kann die Idee wegwerfen.
Aber so schlecht war sie ja nicht – im Gegenteil, sie ist einem ja sogar so gut erschienen, dass man eben daraus was Großes machen wollte!
Offenbar gibt es da noch etwas, was man können sollte: "Mit Ideen umgehen". Ideen hervorrufen, Arten von Ideen gern haben, Ideen ändern, umbauen, modifizieren – so, dass etwas Neues bleibt, sich anderes ändert: "Spielen mit Ideen", aber auch "Arbeiten mit Ideen". Der Unterschied ist: Beim Spielen erlaubt man sich ohne Kritik, "aus dem Bauch heraus", intuitiv an seinen Ideen herumzuwerke(l)n; beim Arbeiten geht man rational, mit "Ideen über Ideen" an seine Ideen.
Ein Teil dieses "Arbeitens mit Ideen" hat mit dem "Erlernen von Phantasie" zu tun – über den Tellerrand hinauszuschauen: Ein Baum, ein Zaun, ein Ameisenhaufen, eine Wolke, sogar eine Software ("straight line code" = "assembly line") oder eine Organisation ("Trennung der Gewalten" = "Verantwortungsbereiche") können Ideen über Gebäude anregen – nicht als fertige Pläne: Aber zumindest als Metaphern, vielleicht aber doch auch als konkrete Elemente in einem Gebäude.Ein Teil dieses "Arbeitens mit Ideen" hat mit dem "Erlernen von Phantasie" zu tun – über den Tellerrand hinauszuschauen: Ein Geräusch, ein Gespräch, eine Tätigkeit, sogar ein Geruch ("scharf und aufregend") oder eine Organisation ("Trennung der Gewalten" = "Trennung der Stimmen") können Ideen über ein Musikstück anregen – nicht als fertige Partitur: Aber zumindest als Metaphern, vielleicht aber doch auch als konkrete Elemente in einem Musikstück.
Ein anderer Teil des "Arbeitens mit Ideen" hat mit der "Kreuzbefruchtung" der Teildisziplinen zu tun: Die Statik, die Baumaterialien, die Nutzung oder die Kosten können bestimmte Formen bevorzugen, die dann als genuine Stilelemente entwickelt werden können: "Form follows function", Sichtbeton, offene Dachstühle sind solche "Grenzüberschreitungen", die mir (als absolutem Architekturlaien) einfallen. Ein anderer Teil des "Arbeitens mit Ideen" hat mit der "Kreuzbefruchtung" der Teildisziplinen zu tun: Die Harmonik, die Instrumente, die Formenlehre können bestimmte Muster bevorzugen, die dann als genuine Stilelemente entwickelt werden können: Liedform nicht nur im kleinen (wo das Wiederholen von musikalischen Motiven uns allen selbstverständlich ist), sondern im ganz großen; Harmonien, die Stimmführung induzieren und umgekehrt (was man bei Bach, aber auch in jeder Jam-Session feststellen kann); Rhythmus als Melodiegeber, Instrumenten- und Stimmgrenzen als Stilelemente (Countertenöre, Naturtonhorn, ethnische Instrumente im Jazz) sind solche "Grenzüberschreitungen", die mir einfallen.
Ein dritter Teil des "Arbeitens mit Ideen" ist das kritische Verbessern von Ideen. Man kann nicht viel anderes sagen als "interessantere Ideen sind interessanter": Ideen und Elemente, die noch nicht da waren, die man nicht kennt, haben einen "Wert an sich". Einer Idee ihre "trivialen Anteile auszutreiben", sie "interessant zu machen durch die 'richtige' Mischung aus Klarheit und Überraschungen, Vertrautem und Neuem, Verstehbarem und Grenzüberschreitendem – darum geht's.
Und nur dieses Arbeiten mit Ideen ist der Inhalt von de la Motte's "Wege zum Komponieren": Das Buch heißt nicht umsonst so – nicht "Wege des Komponierens" oder "Methoden des Komponierens" oder so. Das ist auch "alles", was es leistet: Jemanden, der auf der "Suche nach der Suche nach Ideen" ist, Wege (Plural!) zu zeigen – von denen man den einen oder anderen gehen kann (ich will irgendwann Rondos komponieren), viele aber sicher nicht gehen wird (Geräusche? neue Klänge? interessieren mich nicht sehr – obwohl ich da ein schlechtes Gewissen dabei habe: Denn muss sich ein Komponist damit nicht beschäftigen?); und auf diesen Wegen das "Schärfen von Ideen" zu lernen (daher sein Insistieren auf dem Radiergummi – ich bin mit der Delete-Taste zufrieden).

Ich versuch es noch einmal zusammenzufassen: Komponieren kann man – wie jede interessante kreative Tätigkeit: Kunst, aber auch Ingenieursdisziplinen oder alles, was mit Menschen zu tun hat – als Zusammenwirken von zwei Bereichen sehen: Ideen; und Methoden.
  • Die Methoden sind viele, und sie lassen sich aufschlüsseln nach einem "Kanon", der sich in den letzten Jahrhunderten entwickelt hat. Viele Methoden kann man lernen – aber man muss keine einzige beherrschen; ein paar davon sollte man jedoch "sein Eigen nennen": sie können; und können wollen; und darin mit Vergnügen besser werden.
  • Ideen hat man immer wieder – nur soll man an seinen Ideen auch arbeiten: Neue aus sich rauskitzeln können; und wenn sie da sind, sie "schärfen" = verbessern nach den Maßstäben, die man selbst und dann wohl auch die intendierten Zuhörer daran anlegen werden.
Weil ein Musikstück so viele Dimensionen hat, muss man sich in den Anfängen des Komponierens entlang vieler dieser Dimensionen einschränken:
  • Vielleicht nur bestimmte (kurze) Formen wählen – Vorschläge: Strophe+Refrain, Liedformen;
  • Vielleicht nur bestimmte Gruppen von Klängen wählen – Vorschläge: einige übliche Instrumente (zumindest jene/s, das oder die man selber spielt), einige Sample-Libraries;
  • Vielleicht nur bestimmte Arten von Harmonien verwenden – Vorschlag: die, mit denen man sich wohlfühlt; die man auf seinem Instrument kann;
  • Vielleicht am Anfang nur Textvertonungen – Texte "erzeugen" oft Musik(ideen);
  • Vielleicht nur bestimmte Arten des "Notierens", mit Klavier+Papier; oder Notenprogramm ohne Abspielen (mein Weg); oder Einspielen und Abspeichern mit einem Synthesizer (in unseren modernen Zeiten ist "Abspeichern" auch eine Form von "Notieren") – Vorschlag: Sich auf eine Methode festlegen und mindestens ein paar Wochen dabei bleiben, weil jede Methode insofern anstrengend ist, als man mit ihren jeweiligen Problemen irgendwie umgehen muss (Abspeichern ist z.B. schwer punktuell änderbar - "diese Bassfigur ohne Quinte, und dreimal statt zweimal wiederholt"? Papier kann man so schwer abspielen, wenn einem danach ist; Notenprogramm braucht lang zum Notieren von "Selbstverständlichem").
Und wenn man sich da bewusst festgelegt hat, dann kann man mit allen anderen Dimensionen spielen – den üblichen: Melodie, Rhythmus, Harmonien, Tempi; und anderen: Text, Aufführungsart ("im Freien zu spielen") oder was immer.

So geht das mit dem Komponieren-Lernen.

Wenn jemand nun wieder erwartet hat, dass hier was steht über Harmonisieren, Einspielen von Stücken, Instrumentieren oder gar Aufführung selbstkomponierter Stücke, dann versteht er oder sie jetzt, dass alle diese Dinge zwar zum Komponieren gehören – dass das aber keine dieser Tätigkeiten Komponieren "ist":

Komponieren ist, in jedem dieser Bereiche aus den unendlichen Möglichkeiten auszusuchen; dieses Aussuchen, dieses Entscheiden kann man aber nicht geradeaus lernen, so wenig wie man lernen kann, den richtigen Freund oder die richtige Freundin auszusuchen; und überhaupt die richtigen Entscheidungen im Leben zu treffen.

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