Mittwoch, 11. Dezember 2013

Zwei Erkenntnisse an einem Kanon - zweitens: Wie in einem Kanon "mehr Harmonien drin sind als dastehen"

Im letzten Posting habe ich einen Kanon vorgestellt, mit dem ich den Zuhörer ziemlich zum "Entgleisen" bringen konnte. An diesem Kanon habe ich noch etwas gelernt, was ich so noch nie bedacht hatte:
Die Harmoniefolge (oder genauer: Funktionsfolge) eines gesungenen (zyklischen) Kanons ist nicht (unbedingt) in jedem Durchlauf gleich!
Wie kann das sein? Es werden doch bei jedem Durchlauf dieselben Töne gesungen, nur eben zyklisch durch die Stimmen getauscht. Dieselben Töne an derselben Stelle müssen doch dieselben Harmonien erzeugen!

Das würde tatsächlich stimmen, wenn alle Stimmen in derselben Stimmlage singen. Wenn aber manche Stimmen oktavieren, dann können sich je nach Durchlauf die äußersten Töne der Akkorde ändern. Weil aber diese äußersten Töne – insbesondere der Bass – mehr zur Funktion beitragen als die inneren Stimmen, kann sich diese Funktion tatsächlich von Durchlauf zu Durchlauf ändern! Ich erkläre das wieder an meinem kleinen Swing-Kanon.

Zuerst hier noch einmal der Kanon zum Anhören:

Kanon in Swing mit Klatschen – MP3

Wenn man "funktional" zuhört, merkt man – finde ich –, dass die Funktion des ersten Taktes jedes Durchlaufs manchmal T ist, manchmal aber Tp. In Worten ausgedrückt: Manchmal hört man an dieser Stelle den Durakkord der Haupttonart, manchmal aber den Mollakkord der parallelen Moll! Hier folgt ein Versuch einer Erklärung dieses Effekts.

In den folgenden Noten des Kanons sind die wesentlichen Funktionen (nicht ganz vollständig) so bezeichnet, wie ich sie beim ersten Durchlauf mit allen vier Stimmen höre, wenn der oktavierte Bass als letzte Stimme unter den anderen drei Stimmen von vorne beginnt. Die Noten, die die Funktion im ersten Takt wesentlich mitbestimmen, sind blau markiert:


Auch am Beginn des zweiten Durchlauf hört man noch diese Funktionen.

Am Beginn des dritten Durchlaufs passiert aber eine "Umwertung": Das tiefe A+Ais des Basses am Ende der zweiten Zeile produziert Leitton-Gefühl, das sich auch wunderschön zum H auf dem schweren und (wegen des Swing) längeren Taktteil des Taktes unter "3." auflöst ... und schon sind wir in h-Moll!
Das folgende A des Basses wird, weil kurz, leicht genommen und führt daher noch nicht zu einer Rückkehr zu D-Dur, sondern wird als die Sept eines erweiterten h-moll-Dreiklanges aufgefasst, vor allem auch weil der nächste Akkord dann wieder h-Moll ist – zwar nun in Quartlage (Fis im Bass), aber noch immer die Mollparallele bestätigend.
Erst danach holen die Gis den Zuhörer zurück in die vorherigen Harmonien.

Die Funktionen im ersten Takt sind nun also die hier blau bezeichneten der unteren Zeile:


Et voilà – gleiche Töne, aber verschiedene Harmonien!

Zwei Erkenntnisse an einem Kanon - erstens: Fundierung ist nötig!

Gestern habe ich in der S-Bahn einen "Kanon in Swing" geschrieben: Er sollte nicht nur einen typischen, triolischen Swing-Rhythmus haben, sondern Swing-typische Klänge verwenden. Eigentlich war ich ganz zufrieden mit dem Ergebnis (andere können was anderes denken, aber darum geht es hier nicht), das man hier hören kann:

Kanon in Swing – MP3

Was hörst Du hier? Wenn es Dir so wie mir geht, hast Du eines der beiden folgenden "Hör-Erlebnisse":
  • Ein chaotisches Durcheinander von Tönen, die irgendwie rauf und runtergehen.
  • Ein Stück im Swing-Rhythmus, das etwas schräg durch die Harmonien wandert.
Ich hatte beim Komponieren und ersten Anhören das zweite "im Gehör" – ein paar Stunden später aber konnte ich nur Chaos hören, war weder die Tonart noch der Rhythmus klar.

Offenbar hatte ich beim Komponieren und ersten Hören den Grundton oder sogar die Harmoniefolge in meinem inneren Gehör, über der sich der etwas komplexe Kanon abspielt. Und auch den Hauptrhythmus, einen simplen Zweiertakt, konnte ich ab dem triolischen Auftakt "eingleisen" und damit die Synkopen korrekt gegen dieses Rhythmus hören. Jeder Zuhörer aber, der das Stück unvorbereitet hören muss, hat weder das eine (Grundton) noch das andere (Zweier-Rhythmus) zur Verfügung und schafft es so womöglich nicht, diese beiden Dinge aus dem Gehörten schnell genug zu (re)konstruieren – zumindest beim ersten und zweiten Hören.

Dass Musik "fundiert" sein muss, ist natürlich eine ewig alte Erkenntnis. De la Motte beschreibt in seinem "Melodie"-Buch den Gegensatz zwischen Schubert- und Beethoven-Melodien: Wie der erstere alleine in seinen Lied-Melodien die Fundierung auf eine Tonart schafft, während der andere "sinfonische Melodien" schreibt, die erst im Zusammenspiel mit einer (Klavier-)Begleitung eine Tonart bestimmen. Theoretisch war mir das also natürlich klar ... praktisch bin ich aber direkt in die Falle gegangen.

Was ist der Grund dafür (außer dass ich ein ziemlich ungeübter Komponist bin und wahrscheinlich alle Fehler erst noch machen muss, die man so machen kann ...)? Ein Grund ist sicher, dass ich, ganz "klassisch", meine Kompositionen mit Noten schreibe. Hier ist der notierte Anfang dieses Kanons:


Diese Notation nun gibt sowohl Tonart als auch Takt vor! Man weiß, wenn man die Noten liest, schon beim ersten Hinschauen, dass die Tonart D-Dur ist (und dass daher das Gis im sechsten Takt eine "schräge" Note ist und nicht eine Tonart-bestimmende). Man weiß auch, dass die ersten drei Töne einen Auftakt bilden, und wo daher der schwere Schlag liegt. Deshalb ist man als "Notenleser", und noch viel mehr als Komponist, hier klar im Vorteil. Nur ist Musik eben kein "Lese-Sport", sondern etwas, das gehört werden will. Und insofern ist dieser Kanon womöglich ein Versager.

Übungshalber habe ich versucht, Grundton und Rhythmus durch eine brutale Klavier-Intro und -Begleitung zu "fundieren":

Kanon in Swing mit Klavier-Intro und -Begleitung – MP3

Das führt natürlich dazu, dass sowohl die Tonhöhen als auch der Rhythmus sinnvoll "ins Gleis laufen"! Und man kann sich nun auch die erste, rein "(MIDI-)vokale" Aufnahme anhören und diese Muster darunterlegen – bis man sie nach einiger Zeit wieder vergisst und dann womöglich wieder ein Chaos an Tönen hört. Allerdings ist das schon ein brachiales Verfahren, einen Kanon zu begradigen ... so wollte ich ihn eigentlich nicht komponiert haben!

Vielleicht reicht es aber auch aus, nur den Rhythmus zu fundieren. Wenn man für den Zuhörer die schweren Taktzeiten identifiziert, kann er sich darauf verlassen, dort auch die Haupttöne der Tonart zu finden, und findet damit nicht nur ins rhythmische, sondern auch ins Tonart-"Gleis". Hier ist eine Version, wo Klatschen diese Rhythmus-Fundierung liefert (Fingerschnippen ist bei einer echten Aufführung viel besser, fehlt aber in meinem GM-MIDI-Font noch):

Kanon in Swing mit Klatschen – MP3

Eine zweite, ganz andere Erkenntnis, die ich über Kanons hatte: nämlich wie man darin "mehr Harmonien hört, als da sind", beschreibe ich in einem getrennten Posting.