Im letzten Posting habe ich einen Kanon vorgestellt, mit dem ich den Zuhörer ziemlich zum "Entgleisen" bringen konnte. An diesem Kanon habe ich noch etwas gelernt, was ich so noch nie bedacht hatte:
Die Harmoniefolge (oder genauer: Funktionsfolge) eines gesungenen (zyklischen) Kanons ist nicht (unbedingt) in jedem Durchlauf gleich!
Wie kann das sein? Es werden doch bei jedem Durchlauf dieselben Töne gesungen, nur eben zyklisch durch die Stimmen getauscht. Dieselben Töne an derselben Stelle müssen doch dieselben Harmonien erzeugen!
Das würde tatsächlich stimmen, wenn alle Stimmen in derselben Stimmlage singen. Wenn aber manche Stimmen oktavieren, dann können sich je nach Durchlauf die äußersten Töne der Akkorde ändern. Weil aber diese äußersten Töne – insbesondere der Bass – mehr zur Funktion beitragen als die inneren Stimmen, kann sich diese Funktion tatsächlich von Durchlauf zu Durchlauf ändern! Ich erkläre das wieder an meinem kleinen Swing-Kanon.
Wenn man "funktional" zuhört, merkt man – finde ich –, dass die Funktion des ersten Taktes jedes Durchlaufs manchmal T ist, manchmal aber Tp. In Worten ausgedrückt: Manchmal hört man an dieser Stelle den Durakkord der Haupttonart, manchmal aber den Mollakkord der parallelen Moll! Hier folgt ein Versuch einer Erklärung dieses Effekts.
In den folgenden Noten des Kanons sind die wesentlichen Funktionen (nicht ganz vollständig) so bezeichnet, wie ich sie beim ersten Durchlauf mit allen vier Stimmen höre, wenn der oktavierte Bass als letzte Stimme unter den anderen drei Stimmen von vorne beginnt.Die Noten, die die Funktion im ersten Takt wesentlich mitbestimmen, sind blau markiert:
Auch am Beginn des zweiten Durchlauf hört man noch diese Funktionen.
Am Beginn des dritten Durchlaufs passiert aber eine "Umwertung": Das tiefe A+Ais des Basses am Ende der zweiten Zeile produziert Leitton-Gefühl, das sich auch wunderschön zum H auf dem schweren und (wegen des Swing) längeren Taktteil des Taktes unter "3." auflöst ... und schon sind wir in h-Moll!
Das folgende A des Basses wird, weil kurz, leicht genommen und führt daher noch nicht zu einer Rückkehr zu D-Dur, sondern wird als die Sept eines erweiterten h-moll-Dreiklanges aufgefasst, vor allem auch weil der nächste Akkord dann wieder h-Moll ist – zwar nun in Quartlage (Fis im Bass), aber noch immer die Mollparallele bestätigend.
Erst danach holen die Gis den Zuhörer zurück in die vorherigen Harmonien.
Die Funktionen im ersten Takt sind nun also die hier blau bezeichneten der unteren Zeile:
Et voilà – gleiche Töne, aber verschiedene Harmonien!
Gestern habe ich in der S-Bahn einen "Kanon in Swing" geschrieben: Er sollte nicht nur einen typischen, triolischen Swing-Rhythmus haben, sondern Swing-typische Klänge verwenden. Eigentlich war ich ganz zufrieden mit dem Ergebnis (andere können was anderes denken, aber darum geht es hier nicht), das man hier hören kann:
Was hörst Du hier? Wenn es Dir so wie mir geht, hast Du eines der beiden folgenden "Hör-Erlebnisse":
Ein chaotisches Durcheinander von Tönen, die irgendwie rauf und runtergehen.
Ein Stück im Swing-Rhythmus, das etwas schräg durch die Harmonien wandert.
Ich hatte beim Komponieren und ersten Anhören das zweite "im Gehör" – ein paar Stunden später aber konnte ich nur Chaos hören, war weder die Tonart noch der Rhythmus klar.
Offenbar hatte ich beim Komponieren und ersten Hören den Grundton oder sogar die Harmoniefolge in meinem inneren Gehör, über der sich der etwas komplexe Kanon abspielt. Und auch den Hauptrhythmus, einen simplen Zweiertakt, konnte ich ab dem triolischen Auftakt "eingleisen" und damit die Synkopen korrekt gegen dieses Rhythmus hören. Jeder Zuhörer aber, der das Stück unvorbereitet hören muss, hat weder das eine (Grundton) noch das andere (Zweier-Rhythmus) zur Verfügung und schafft es so womöglich nicht, diese beiden Dinge aus dem Gehörten schnell genug zu (re)konstruieren – zumindest beim ersten und zweiten Hören.
Dass Musik "fundiert" sein muss, ist natürlich eine ewig alte Erkenntnis. De la Motte beschreibt in seinem "Melodie"-Buch den Gegensatz zwischen Schubert- und Beethoven-Melodien: Wie der erstere alleine in seinen Lied-Melodien die Fundierung auf eine Tonart schafft, während der andere "sinfonische Melodien" schreibt, die erst im Zusammenspiel mit einer (Klavier-)Begleitung eine Tonart bestimmen. Theoretisch war mir das also natürlich klar ... praktisch bin ich aber direkt in die Falle gegangen.
Was ist der Grund dafür (außer dass ich ein ziemlich ungeübter Komponist bin und wahrscheinlich alle Fehler erst noch machen muss, die man so machen kann ...)? Ein Grund ist sicher, dass ich, ganz "klassisch", meine Kompositionen mit Noten schreibe. Hier ist der notierte Anfang dieses Kanons:
Diese Notation nun gibt sowohl Tonart als auch Takt vor! Man weiß, wenn man die Noten liest, schon beim ersten Hinschauen, dass die Tonart D-Dur ist (und dass daher das Gis im sechsten Takt eine "schräge" Note ist und nicht eine Tonart-bestimmende). Man weiß auch, dass die ersten drei Töne einen Auftakt bilden, und wo daher der schwere Schlag liegt. Deshalb ist man als "Notenleser", und noch viel mehr als Komponist, hier klar im Vorteil. Nur ist Musik eben kein "Lese-Sport", sondern etwas, das gehört werden will. Und insofern ist dieser Kanon womöglich ein Versager.
Übungshalber habe ich versucht, Grundton und Rhythmus durch eine brutale Klavier-Intro und -Begleitung zu "fundieren":
Das führt natürlich dazu, dass sowohl die Tonhöhen als auch der Rhythmus sinnvoll "ins Gleis laufen"! Und man kann sich nun auch die erste, rein "(MIDI-)vokale" Aufnahme anhören und diese Muster darunterlegen – bis man sie nach einiger Zeit wieder vergisst und dann womöglich wieder ein Chaos an Tönen hört. Allerdings ist das schon ein brachiales Verfahren, einen Kanon zu begradigen ... so wollte ich ihn eigentlich nicht komponiert haben!
Vielleicht reicht es aber auch aus, nur den Rhythmus zu fundieren. Wenn man für den Zuhörer die schweren Taktzeiten identifiziert, kann er sich darauf verlassen, dort auch die Haupttöne der Tonart zu finden, und findet damit nicht nur ins rhythmische, sondern auch ins Tonart-"Gleis". Hier ist eine Version, wo Klatschen diese Rhythmus-Fundierung liefert (Fingerschnippen ist bei einer echten Aufführung viel besser, fehlt aber in meinem GM-MIDI-Font noch):
Eine zweite, ganz andere Erkenntnis, die ich über Kanons hatte: nämlich wie man darin "mehr Harmonien hört, als da sind", beschreibe ich in einem getrennten Posting.
Die Harmonien sind am Anfang noch ein wenig gewöhnungsbedürftig, weil die parallele Moll-Tonart die Tonika ersetzt – ab der Mitte sind wir dann aber bei der uralten I-IV-V-I-Kadenz, und alles wird gut und Volksmusik.
Orion von Metallica ist ziemlich heavy – man könnte auch sagen laut ... und harmonisch nicht unbedingt an klassischen Harmonien und Formen orientiert.
Ziemlich unerwartet kommt daher mitten drin ... was vor?
Micha hat sich die Arbeit gemacht und zum einen im Kyrie der Missa brevis KV 192 die Takte von Exposition und Reprise eins-gegen-eins miteinander verglichen; aber zum anderen genauer auf die Vorzeichen in der Exposition (und der Reprise) geschaut. Hier ist ihre Zusammenfassung:
Also, ich hab's mir noch mal angeguckt und folgende Dinge sind mir dabei klar und andere unklar:
Das Hauptthema (F-Dur) bis Takt 19 und das Hauptthema der Reprise (F-Dur) von Takt 46-53 ist total logisch.
Das Seitenthema beginnt für Dich im Takt 32 (C-Dur), das Seitenthema der Reprise in Takt 66 (F-Dur). Dass das gleiche Thema erst in C, dann (wie das Hauptthema) in F-Dur geschrieben ist, verstehe ich.
Die Durchführung findet in Takt 39-45 statt. Auch der unterschiedliche Text – ist wirklich superlogisch.
Das Gedudel von Takt 20-25 und von Takt 54-58 passt zwar auch super zueinander :-) aber das erste ist für Dich weiterhin das Thema in F-Dur (das zu C-Dur tendiert), obwohl sämtliche B's zu H werden und auch ein Fis und Es auftauchen, andererseits ist das zweite für Dich B-Dur, obwohl nur in Takt 55 mal 2 Es vorkommen (ich habe halt nur unsere Fassung, nicht die Partitur). Das finde ich nicht logisch.
Takt 27-31 und Takt 61-65 sehen für mich aus wie C-Dur mit 'nem b bzw. F-Dur mit 'nem Es.
Mir fällt es einfach schwer, die Zugehörigkeit von Takt 20-31 und Takt 54-66 zum Hauptthema zu erkennen.
Um es gleich vorwegzunehmen: Ja, mir fällt es nach genauerem Hinschauen auch schwer, die Zugehörigkeit von Takt 20-31 und Takt 54-66 zum Hauptthema zu erkennen. Mein erster Text war eigentlich nur eine Erklärung dieses Prinzips der Durchführung, die da so auffällt als "ganz anderer Mittelteil" – und natürlich überhaupt der Erklärung, dass dieses Kyrie eine Sonate(nhauptsatzform) ist. Die Hauptthema-Seitenthema-Zuordnung habe ich eher lässig genommen – zu lässig, wie Michas Kritik zeigt.
Also versuche ich nun noch einmal genauer hinzuschauen. Hier ist das Ergebnis einer halben Stunde "Sezier-Arbeit":
Untereinander stehen die drei offensichtlichen "Motive" in Exposition (also dem Teil zwischen Vorspiel und Durchführung) und Reprise (dem Teil nach der Durchführung).
T.#-# bezeichnet jeweils die Taktnummern – links in der Exposition, rechts in der Reprise –, dahinter steht in eckigen Klammern die Taktanzahl, damit man sie nicht jedesmal ausrechnen muss und dahinter die Tonart des Abschnittes.
Teilmotiv-Wiederholungen innerhalb eines Motivs sind weggelassen.
Meistens steht nur eine Stimme da – beim zweiten Motiv habe ich aber ein Achtel der Geigen (die nicht ausgefüllte Note) und den Anfang des "Comes" dazugeschrieben, weil die entstehende Sekund "akustisch" (das reibt sich!) offenbar wichtig ist. Die Kreuznoten am Schluss meinen, dass hier nur mehr der Rhythmus notiert ist, nicht die Tonhöhe.
Unter den ersten beiden Motiven stehen auch die Stufenbezeichnungen der Harmonien.
Und nun kann ich sagen: Die Achtelpause und die ganze Viertel am Anfang der beiden oberen Motive haben mich falscherweise dazu verführt, das zweite Motiv als eine Variante des ersten zu "überlesen" und daher das dritte Motiv als Seitenthema zu bezeichnen.
Nach dem genaueren Hinschauen kann man das so nicht stehenlassen: Sowohl die Klangwirkung der zwei oberen Motive wie auch der harmonische Ablauf sind vollkommen verschieden:
Klang: Konsonantisch beim ersten Motiv, Dissonanz (die Sekunden auf schweren Taktteilen!) beim zweiten.
Harmonie: Kadenz (mit Ersatz IV?II) beim ersten Motiv, eigenständig erfundene Harmoniefolge beim zweiten Motiv.
Wenn man nun den Blick auf die Reprise wirft, dann kann man meinen früheren Quintsprung "mitten im Hauptthema" nun plötzlich ganz anders sehen: Nämlich als Quintsprung zwischen den Themen, wie sich das ja in der Sonatenhauptsatzform eigentlich gehört (und häufig auch einfach so direkt, ohne verdeckende Modulation oder ähnliches gemacht wurde). Klar gesagt:
Das achttaktige Hauptthema ist aus dem Motiv 1 konstruiert,
das sechstaktige Seitenthema aus dem Motiv 2.
Nach dieser Aufteilung ist der Aufbau noch "lehrbuchmäßiger", noch "verständlicher" geworden. Und dass die zwei Themen miteinander halbwegs eng verwandt sind, ist ja kein "Fehler": Im Gegenteil, eine wie auch immer definierte Verwandt- oder Bekanntschaft soll so sein in einer Sonatenhauptsatzform. Hier haben wir außerdem noch auf beiden Themen denselben Text (das immer wieder wiederholte "Kyrie eleison"), sodass ein echtes "Kontrastthema" eigentlich gar nicht passen würde!
Zwei "Probleme" bleiben:
(a) Das Seitenthema beginnt (in der Exposition) nicht in der Dominant-Tonart (C-Dur), sondern noch in der Haupttonart (F-Dur). Mit zwei kleinen Anmerkungen glaube ich das trotzdem "durchgehen" lassen zu können: Zum ersten ruft die Sekund f-g am Beginn schon fast den Septakkord von C ins Gedächtnis – die Melodie tendiert hier schon Richtung C. Zum anderen geht sie dann nach zwei Takten so strahlend nach C-Dur (und bleibt dort), dass sie einfach, "von hinten her betrachtet", ein C-Dur-Thema ist!
(b) Außerdem hat man nun plötzlich "einen Haufen Musik nach dem Seitenthema": Was macht man damit? Ich denke, das lässt sich im wesentlichen als "Motiv-Verarbeitung" zusammenfassen: Nach den 8+6=14 Takten "Themenvorstellung" folgen 3+3+4+3=13 Takte, die zuerst das Hauptmotiv noch einmal für 3 Takte aufgreifen und dann "in einfachen Kadenzen ausklingen lassen". Vielleicht kann man hier noch weitere Motivverwandtschaften feststellen (die Achtel-/Pausenfolgen scheinen mir auch mehrfach aufgegriffen), aber diese Arbeit erspare ich mir – vor allem auch, weil mein Wissen nicht ausreicht, um tiefschürfendere vernünftige Aussagen zu treffen.
Ich belasse es einmal bei dieser (noch immer) Hobbyanalyse des Kyrie aus dieser "Missa brevis" und bedanke mich bei allen, die mir Rückmeldungen gegeben haben – besonders aber schon bei Micha, die mich zu dieser zweiten Analyse herausgefordert hat!
Wir singen ja diese Messe KV192; und wie wir am Samstag festgestellt haben, ist der Mittelteil des Kyrie zwar ziemlich kurz, aber doch um einiges schwerer und auch irgendwie ganz "anders" als der Rest davon. Wieso ist das so? Was hat sich ein Komponist wie Mozart an dieser Stelle gedacht – und wieso macht er's uns nicht einfach leichter? Wenn das jemand interessiert, kann er sich meine folgende Antwort darauf zu Gemüte führen – und dabei vielleicht ein bissl Einblick ins Komponieren bekommen.
Ich riskiere hier meine eigene Antwort, ohne in irgendeinem Buch oder sonstwo nachgeschaut zu haben, was andere, Berufenere dazu so meinen – trotzdem denke ich, dass was dran ist an meiner einerseits einfachen, andererseits gar nicht so einfachen Überlegung.
Meine Antwort ist nämlich einfach: Sonatenhauptsatzform!
Aha. Jetzt seid ihr so schlau wie vorher, oder, liebe Leserinnen und Leser? Also muss ich wenig weiter ausholen. Wo fange ich an? Vielleicht so: Ein Musikstück kann man sich unter vielen Blickwinkeln anschauen. Einige wichtige davon sind:
Die Melodien (klar).
Die Harmonien – wie klingt es zusammen?
Die Melodieführung (der "Kontrapunkt")
... die Instrumentierung ...
... ... der Textbezug ...
Alles das ist interessant, aber es gibt einen Punkt, der uns hier besonders interessiert, und das ist:
Die Form.
Was ist denn nun das wieder? Die Form: Das ist, wie einzelne unterscheidbare Teile eines Musikstücks aufeinanderfolgen. Hier sind ein paar Formen:
Eine ganz einfache Form: Strophenlied (formal schreibt man manchmal: A A A A ... – A ist die Strophe, und die wird immer wieder wiederholt, bis der Text eben aus ist).
Strophenlied mit Refrain: A B A B A B (A ist die Strophe, B der Refrain).
Ein Marsch mit Trio könnte sein: A A B B A A C (das Marschthema A wird in der Regel wiederholt, dann kommt das Trio B – auch wiederholt –, dann wieder der Marsch, zum Schluss eine Coda C).
... und noch viele andere.
Uns interessiert hier aber eine Form, von der man gemeinhin sagt, dass Joseph Haydn sie erfunden hat: die oben genannte "Sonatenform" oder ausführlicher "Sonatenhauptsatzform". Die Sonatenhauptsatzform ist eine "Blaupause" für mittellange Musikstücke – am Anfang waren das eben
Klaviersonaten (daher der Name; Haydn hat 100 oder so geschrieben), aber bald darauf auch
Streichquartette (übrigens eine Instrumentalform, die auch Haydn praktisch erfunden hat), dann
Solokonzerte (für Klavier und Orchester, Geige und Orchester, Trompete und Orchester, Klarinette und Orchester usw.usf.) und
dann für ganze Symphoniesätze, die sich über 15 Minuten und mehr ziehen können.
Die Sonatenhauptsatzform war eine überaus erfolgreiche Blaupause – sie war fast 150 Jahre (von etwa 1750 bis fast 1900) "modern", und an ihr haben sich Hunderte Komponisten orientiert und abgearbeitet.
Was ist nun aber diese Sonatenhauptsatzform? "Ganz einfach":
Erstens: Man entscheidet sich für eine Tonart. Zweitens: Dann erfindet man zwei Themen (Melodien) – man nennt sie Hauptthema und Seitenthema (über ihr "Verhältnis" kann man lang philosophieren und viel studieren – tun wir hier nicht). Drittens: Damit baut man nun folgendes zusammen:
Hauptthema (in der Haupttonart)
Seitenthema (eine Quinte höher – in der "Dominante")
Wenn man will, wiederholt man die beiden Themen.
Nun folgt ein Zwischenspiel – die sogenannte Durchführung, in der man eines der Themen kunstvoll verändert, variiert, in -zig Tonarten umbiegt, total den Faden verliert, bis man ...
... plötzlich wieder beim Hauptthema ist!
Nun hängt man noch eimal das Seitenthema an – aber nun auch in der Haupttonart, damit die Sonate auch schön mit dieser Tonart endet.
Und fertig.
Wieso ausgerechnet diese Form so ein Hit wurde? Das hat natürlich viele verschiedene Gründe, und manches lässt sich auch nicht erklären – aber eine Kleinigkeit zeigt vielleicht, wie "große und kleine Musik" verbunden sind. Vergessen wir einmal diese Trennung von Haupt- und Seitenthema und fassen beide einfach unter "Thema" zusammen. Dann hat die Sonatenhauptsatzform mit Wiederholung folgenden Ablauf:
Thema – Thema – Durchführung – Thema
Das schreibt man auch kürzer als AABA. Und nun singen wir "Hänschen klein". Merkt ihr was?
"Hänschen klein ging allein in die weite Welt hinein" = A
"Stock und Hut steht ihm gut, ist gar wohlgemut" = fast A (bis auf den Schluss)
"Aber Mutter weinet sehr, hat ja nun kein Hänschen mehr" = ganz was anderes: B.
"Wünsch dir Glück, sagt ihr Blick, kehr nur bald zurück" = wieder fast A.
– auch AABA! Diese sogenannte "Liedform" ist offenbar etwas, was "jeder kennt" und was es schon sehr lange gibt – und die Sonatenhauptsatzform ist "nur" (aber natürlich viel mehr als "nur") die enorme künstlerische Vergrößerung dieser kleinen Form: Die nun den Komponisten einerseits eine Vorlage, aber andererseits auch unendliche Freiheit gab! Denn man konnte einerseits an kunstvollen Themen, andererseits an einer noch kunstvolleren Durchführung, aber überhaupt und außerdem an allen Stellen davor und dahinter seinem genialen Können freien Lauf lassen – sei es in der phantasievollen Variation von Motiven oder der Verknüpfung der Themen miteinander –, aber auch sein Beherrschen der Regeln von Harmonie und Instrumentierung einsetzen.
Aber ... das ist ja alles eine Erfindung aus der und für die Instrumentalmusik! Was soll das alles mit dem Kyrie einer Mozartmesse zu tun haben? Schauen wir's uns an.
Ich verwende im Folgenden Ausschnitte aus drei verschiedenen Aufführungen, die ich bei youtube gefunden habe. Manche sind schneller, manche langsamer ... Klicken auf die kleinen Bildchen sollte den jeweiligen Ausschnitt starten.
Unser Kyrie beginnt mit einem Orchestervorspiel, das wir elegant ignorieren (ein Vorspiel, eine Einleitung oder "Intro" ist in aller Regel nicht Teil der Form, sondern eben nur eine Vorbereitung).
Dann geht's los: In der Haupttonart F-Dur und in forte kriegen wir vom ganzen Chor ein erstes Thema serviert (ah, dieses Thema wird gleich kompliziert präsentiert, über mehrere Stimmen verteilt und verschoben: Natürlich ist dieses Kyrie nicht nur eine Sonatenhauptsatzform – aber vergessen wir einmal alles über Kontrapunkt und Harmonien und bleiben wir bei der "nackten Form"):
Schon hier pendelt Mozart manchmal zur Quint-Tonart (Dominante) C-Dur, aber im Großen und Ganzen bleibt er doch in F, bis dann ab Takt 22 oder so die C-Dur gewinnt.
Update: Das mit dem Hauptthema und der ganzen Themenaufteilung stimmt so nicht. Micha hat mich herausgefordert – das Ergebnis ist diese verbesserte Untersuchung! Ich lasse den Text hier trotzdem so stehen, weil ich finde, dass ein solcher "Erkenntnisweg" von falsch zu richtig(er) auch nicht uninteressant ist.
Das folgende Sopransolo (Takt 26 bis 31) tut zwar so, als sei es eine eigene Melodie, aber eigentlich spielt darüber das Orchester noch immer unser erstes Thema, und dann gibt es noch eine verlängerte Schlusswendung des Solos:
Nun ja ... es wird langsam langweilig.
Aber dann: Der Chor setzt wieder ein, in der Dominant-Tonart C-Dur, etwas "schräg und aus der Hüfte" mit einem G7-Septakkord, an dem ein kleines, aber eben doch ziemlich anderes zweites Thema (nein: siehe Update und Erklärung ein Stück weiter oben) mit 4 Takten hängt:
Wir haben hinter uns: Hauptthema und Seitenthema (was man zusammen auch "Exposition" nennt; aber das nur nebenbei). Wiederholen mag Mozart, im Gegensatz zum Komponisten des "Hänschen klein", diesen ersten Teil nicht – den Grund überlegen wir uns später.
Was kommt als nächstes? Das, was einem als Klavierspieler Angst macht beim Sonaten-Üben – die Durchführung. Es ist nun einmal so, dass es hier "zur Sache geht": Die Durchführung muss, das geht nicht anders, der erste Höhepunkt, und zwar der Höhepunkt der Kompliziertheit sein. Also legt er los, unser Herr Mozart. Nun gibt es verschiedene Grade der Kompliziertheit, und bei dieser kleineren Messe beschränkt er sich auf ein schon lange bekanntes Verfahren: Modulieren, also durch die Tonarten marschieren. Normale Septakkorde erlauben Quintschritte (C-Dur nach F-Dur gleich am Anfang der Durchführung im Takt 40), mit verminderten Septakkorden kommt man in parallele Moll-Tonarten (F-Dur nach d-moll im Takt 41), daraus kommt man mit einem verminderten Septakkord zu einer Dur, aber eigentlich schon im gleichen Taktschlag im "Terzfall" wieder in eine parallele Moll – und so weiter. Mindestens zwei Tonarten pro Takt bringt er hier an, an manchen Stellen auch drei (Takt 42). Es wird einem leicht schwindlig:
Aber es dauert auch nicht lang: Denn schon (Takt 46) beginnt wieder unser erstes oder Hauptthema! – und zwar ganz brav in der Haupttonart F-Dur, so als wären wir nie woanders hin abgeschweift:
Und eigentlich könnte der Komponist nun mit diesem Hauptthema und dann mit dem Seitenthema ohne Schwierigkeiten in den Schluss-Hafen segeln, wenn's da nicht noch eine letzte Herausforderung gäbe bei der Sonatenhauptsatzform: Wenn wir Hauptthema und Seitenthema wie am Anfang anbringen, dann würden wir nicht in der Haupttonart enden, sondern auf der Quinte (Dominante) – weil ja nach dem Seitenthema Schluss ist! Das "geht aber nicht" – man will, in aller klassischen Musik, schon in der Haupttonart aufhören. Der Komponist muss also Haupt- und Seitenthema irgendwie etwas anders verbinden als im ersten Teil. Für diese "Verbindungsänderung" gibt es viele Möglichkeiten, manche mit ganz elegant versteckten "Modulationen", manche direkter und kürzer über Septakkorde. Mozart wählt hier – "Gebrauchsmusik"?! – die brachialste, die es gibt: Er springt einfach mittendrin, bei einer Pause im Hauptthema (nein: zwischen Haupt- und Seitenthema – siehe Update!), eine Quinte nach unten! Das passiert im Takt 54, wo wir plötzlich von F-Dur nach B-Dur marschieren:
Es knirscht schon einen Moment in den Ohren ("was ist da grad passiert?"), aber was soll's – wir sind dort, wo wir hin wollen: Denn wenn nun etwas später das Seitenthema eine Quint höher losgeht, steht es (eine Quint nach unten im Takt 54, jetzt eine Quint nach oben!) ... in der Haupttonart! Und mit einem zweiten Schluss-Höhepunkt ist das Stück fertig, im Takt 70.
Nicht ganz: Um den "Drive" etwas rauszunehmen, hängt Mozart noch eine kurze Coda an, die einfach aus vier Kadenzen besteht. Diese Coda liefert eigentlich einen kleinen letzten Höhepunkt nach, indem der Sopran zum Schluss noch eine Oktav nach oben geht – weil das Kyrie das erste Stück der Messe ist, muss man da schon auch am Ende ein wenig zeigen, was man draufhat, oder?
Aber jetzt ist wirklich Schluss mit der "Kyrie-Sonate"!
Nur – wie kommt Mozart drauf, ein Kyrie als Sonate zu komponieren? Wissen tu ich's nicht, aber: Das Kyrie hat ja als Text die Folge "Kyrie eleison – Christe eleison – Kyrie eleison", also die dreiteilige Form ABA. Wenn man aber bei der Liedform AABA die erste Wiederholung weglässt, kriegt man ABA – und das passt genau zusammen! Man kann nun einerseits eine kleine Liedform verwenden, um ein Kyrie zu komponieren (wie bei manchen Kyries in der Liturgie oder in unserem Liederbuch), man kann aber eben auch die damals moderne "große Liedform", also die ganze Sonatenhauptsatzform unter das Kyrie legen – so wie's Mozart getan hat. Und wegen des Textablaufs ist auch klar, dass die Exposition eben nicht wiederholt wird.
Jetzt wissen wir es also, warum die Mitte so anders ist: Weil dort in der Sonatenhauptsatzform eben diese "künstlerische" Durchführung liegt, wo's kompliziert werden muss. Daher quält Mozart uns dort – nicht sehr lang, aber dafür intensiv!
Aber? ... die Refrain-Melodie von "When I Hear a Syncopated Tune" ist gar nicht "syncopated", sondern eine einfache punktierte Melodie! Ja, in der Schlussfloskel des Refrains kommt eine Synkope vor, und die wird dreimal wiederholt – aber die "Ohrwurm-Melodie" des Refrains mag nicht ihrem Text folgen. Wieso auch immer.
Bei dieser Melodie würde ich eher nicht annehmen, dass der Komponist (der eine Synkope sicher im Schlaf geschrieben hätte – wir befinden uns am Ende der Ragtime-Hoch-Zeit!) seinem Publikum absichtlich diesen Widerspruch servieren wollte. Eher könnte es z.B. sein, dass der Text erst im Nachhinein auf diese schwungvolle Melodie geschrieben wurde. Aber ich weiß es nicht.
Verfehlt auch diese Aufnahme eines Stückes mit dem Titel "Those Ragtime Melodies" ihren Titel? Da bin ich mir nicht so sicher: Wir erwarten heute von einem Ragtime, dass er "joplinsch" synkopiert ist – aber es mag sein, dass um die Jahrhundertwende viel nicht-synkopierte Unterhaltungsmusik auch unter dem Titel Ragtime verkauft wurde. Trotzdem war auch diese Musik unter diesem Titel für mich überraschend.
Manchmal stolpert man über ein Musikstück (oder ein Stück Musik), bei dem einem etwas Unerwartetes entgegenspringt.
Ich bringe hier ein erstes Beispiel, noch ohne "Auflösung": 1918 schrieb der Komponist Louis Hirsch ein nettes Stück für die Ziegfeld Follies (eine Revue im New York der 1910er und 1920er Jahre), zu einem Text von Gene Buck: "When I Hear a Syncopated Tune". Hier ist ein Link zu einer Aufnahme dieses Liedes, mit einem sehr ins Ohr gehenden Refrain ...
Über die diversen Varianten von Harmonielehre wird in Internetforen, Blogs, aber wohl auch in gedruckten Medien unablässig diskutiert: Darüber, welche Lehre gut, richtig, verwendbar ist: Funktionsharmonik, Stufenharmonik, Akkord-Skalen-Theorie, Generalbass, um die wichtigsten vier zu nennen; aber auch darüber, wozu man Harmonielehre überhaupt braucht.
Den vielen Diskussionen mit ihren immer wieder guten, aber oft auch langen und langwierigen Argumenten fehlt aber fast immer ein Kontext, der zumindest mir wichtig ist: Wozu betreibt, beschreit, diskutiert, lernt, verwendet man eigentlich (eine) Harmonielehre? Wie auch bei der Grammatik unserer Muttersprache, gibt es dafür im wesentlichen drei Gründe:
Zu deskriptiven Zwecken: Strukturen in vorhandener Musik – vorrangig in Kompositionen, aber auch in improvisierter Musik – sollen beschrieben, idealerweise erklärt werden in dem Sinn, dass solche Strukturen oder Muster über viele Werke hinweg erkannt, aber auch ihre Zusammenhänge und Veränderungen bei verschiedenen Komponisten oder zu verschiedenen Zeiten sollen untersucht werden.
Zu präskriptiven Zwecken, also als "Vorschrift": Zum Zweck der Lehre, aber auch zur Musikkritik sollen "Fehler" von "korrekten Harmonien" unterschieden werden können. Natürlich muss sich keiner einer solchen Vorschrift unterwerfen – man kann jede "Regel" immer wieder ignorieren (siehe Beethovens entsprechende Bemerkung). Aber zu jeder Zeit und in jeder Musikrichtung gibt es denn doch Regeln, die die "normalen Harmonien" beschreiben, von denen sich viele Musikschaffende (Komponisten und auch Improvisateure) nur begründet wegbewegen wollen: Dadurch werden aus den deskriptiven Regeln präskriptive.
Zu generativen Zwecken (meine Bezeichnung): Bei allen Formen des Improvisierens – sei's Psalmengesang vor vielen Jahrhunderten, Choralimprovisationen zur Zeit Buxtehudes, aber natürlich die 100 und mehr Jahre der Jazz-Improvisation – hilft es, wenn man nicht nur fertige Muster "abspielen" kann, sondern dass man nach Strukturen spielt, aus denen man zum Zeitpunkt des Spielens die konkreten Töne gewinnt. Das einfachste Beispiel dafür ist, an einer bestimmten Stelle "abzukadenzieren", etwa wenn beim Abendmahl im Gottesdienst der Pfarrer liturgische Worte sprechen will: Je nachdem, wo meine Finger gerade liegen, ergibt sich eine konkrete Kadenz aus dem abstrakten IV-V-I-Muster.
(Ein vierter Zweck ist die Allgemeinbildung – aber den ignoriere ich, weil er mir für diese Diskussion zu generell ist).
Die Diskussionen in Foren von Jazzmusikern haben in der Regel als impliziten Hintergrund, also als Kontext, den dritten Zweck: Wie lerne ich "Konstruktionmuster", um zugleich gut und (sozusagen) in real-time zu improvisieren; dabei ist der Witz guter Konstruktionsmuster, dass sie "offen" sind in dem Sinn, dass man daraus immer neue konkrete musikalische Abläufe gewinnen kann.
Die Diskussionen in Foren, wo Musikstudenten unterwegs sind, haben häufig als impliziten Hintergrund den zweiten Zweck: Wie mache ich es "richtig", nach der aktuell gültigen Lehrmeinung?
Und die wissenschaftliche Literatur orientiert sich vorrangig am ersten Zweck: Wie beschreibe ich harmonische Muster zeit- und schaffenden-gemäß; was heutzutage bedeutet, dass man gerade nicht eine einzelne, "vorschreibende" – wie beim zweiten Zweck – oder gar effiziente – wie beim dritten – Theorie verwendet, sondern diese aus der jeweiligen Zeitepoche heraus entwickelt.
Tatsächlich ist die Sache mit dem Kontext aber verworrener und auch interessanter:
Die wissenschaftliche musikalische Analyse ist, soweit ich das sehe, bei weitem nicht "stabil" insofern, dass sie sich ihrer eigenen Analysemodelle sicher ist. Im Gegenteil, die Metadiskussion, wie sich Analyse abspielen soll, ist inhärenter Teil musikalischer Analyse selbst.
Drei Beispiele dafür: (a) Schon Hugo Riemann im 19. Jahrhundert analysiert offenbar (ich müsste die Stelle heraussuchen) in seiner Funktionstheorie eine Sequenz in einer Beethovensonate, stößt dabei auf die inhärenten Probleme der Funktionstheorie mit Sequenzen, diskutiert aber ein "Stufenmuster" gar nicht, sondern gibt stattdessen vier mögliche funktionstheoretische Analysen der Sequenz: Es ist ihm wichtiger, dass sich die (neue) Theorie auch in Grenzfällen behauptet, als sofort aus ihr wieder auszubrechen. (b) Diether de la Motte's "Harmonielehre" von 1971 spricht explizit über ihren neuen Ansatz, Regeln historisch passend herzuleiten und zu besprechen. (c) Oliver Schwab-Felisch untersucht 2010 in der Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie die Idee, "eklektisch" mehrere Analysemethoden zu verknüpfen (wobei dort der Hauptaspekt nicht die harmonische Analyse ist – es wird durchgängig eine Stufennotation verwendent –, sondern vor allem die "Segmentierung" eines Menuett-Satzes einer Haydn-Symphonie).
Jede präskriptive Herangehensweise, die eine absolute Harmonielehre voraussetzt, kann sich natürlich nicht den jeweiligen Widersprüchen mit den vorhandenen Kompositionen aus mehreren Jahrhunderten entziehen – Bach, Mozart und Duke Ellington halten sich nun einmal nicht an dieselben Regeln. Also müssen die Regeln doch "relativer", zum Beispiel relativ zu Stilrichtungen formuliert werden, verlieren aber ausgerechnet dadurch ihren eindeutig-präskriptiven Charakter.
Die "real-time"-Anforderung an eine Harmonielehre für den "generativen Zweck" erfordert einerseits, dass sie pädagogisch so einfach wie möglich transportiert und gelernt werden kann, also möglichst viel "über einen Leisten schert". Andererseits entwickelt jeder fortgeschrittene Musiker immer mehr seine eigenen Strukturen, einmal, um seine eigenen Ideen unterzubringen, dann aber auch, um noch "effizienter" bei der Generierung "seiner" oder "ihrer" Musik zu werden. Das führt erkennbar dazu, dass jeder (daran interessierte) Jazzmusiker auf der Suche nach einer eigenen Harmonielehre ist: "Für mich ..." ist der Beginn vieler Sätze in solchen Foren, und die Ablehnung anderer Modelle und insbesondere der – in jungen Jahren heftig umarmten – Einheitstheorie (heutzutage i.d.R. die Akkord-Skalen-Theorie) ist Legion. Drittens wird Harmonielehre aber Jazzmusikern oder auch "Generalbassisten" nicht nur für Improvisationszwecke beigebracht, sondern in denselben (Hoch-)Schulen auch für das Arrangieren und Komponieren – dort aber mischen sich neue Aspekte aus dem "deskriptiven" und "präskriptiven" Zweck ein (man will, um's zu verstehen, einen vorhandenen Big-Band-Satz analysieren; und ein Lehrer will eine entsprechende Prüfung korrigieren), was wieder Änderungen an der ursprünglich "reinen Lehre" nach sich zieht – sie wird komplizierter, und ihre Regeln werden wieder "weicher" und "relativer".
So scheint mir das im Großen und Ganzen zu sein, und das ist alles kein wirkliches Problem, wenn man es beim Lesen und Mitdiskutieren im Hinterkopf behält. Wenn man das allerdings vergisst, dann führt das schon oft dazu, dass Leute aneinander vorbeireden.
Diatonische Tonleiter, chromatische Tonleiter und verminderte Septakkorde habe ich zu kürzeren Ragtimes (oder Ragtime-Artigem) verarbeitet – daraufhin hat sich ein übermäßiger Akkord in meinen Gedanken festgekrallt und wollte auch ge-ragtime-t werden. Ich aber wollte nicht mehr – darauf ist der Akkord Amok gelaufen.
Here ist nun ein Video eines Versuchs von mir, meine eigene Komposition "zu Gehör zu bringen", oder wie man das nennt. So richtig erfolgreich bin ich nicht dabei – wenn jemand es besser zusammenbringt, könnte ich versucht sein, eine kleine Anerkennung an die- oder denjenigen zu senden!
Hier ist der Diminished Rag. Er ist allerdings ... nun ja ... nicht so wirklich erste Sahne. Aber was soll's? Zuerst erzähle ich – für Leute, die so was interessiert –, wie ich noch mit halbwegs ernsthaftem Bemühen die ersten acht Takte konstruiert habe. Das hat sich ziemlich "harmonisch-technisch" abgespielt. Nachdem ich mir den verminderten Dreiklang auf d vorgegeben hatte, musste damit ja irgendwas passieren. In einer Moll-Tonart lässt sich dieser Akkord einfach in die Tonika auflösen – gesagt, getan! Eine Umkehrung des Zielakkordes bestärkt ihn noch:
Mit dem nun erreichten c kann man (Sequenz! – übliches Ragtime-Muster; und zur Bestärkung eines Motivs nützlich) dasselbe noch einmal wiederholen, also den verminderten Dreiklang im zweiten Takt auf's c setzen:
Plötzlich und unvermutet bin ich nun aber in b-moll! Ich will aber wieder zurück nach c-moll – nur wie? Idee: Das hohe des ist ja Non des Dominantseptnonakkords (was für ein Name) von f-moll – und das ist schon der halbe Weg zurück nach c-moll! Also dieses Patent zweimal anwenden, und das war's.
Im Detail: Wenn man beim Dominantseptnonakkord den Grundton weglässt, hat man "verkürzten Dominantseptnonakkord", was de facto ein weiterer verminderter Dreiklang ist – hier sieht man ihn im letzten Takt auf e:
Noch einmal derselbe Gag: Wir sind am as, das ist die Non von einem G7/9b, und mit irgendeiner Kadenz bin ich dann wieder in c-moll:
Tatsächlich hab ich noch einen weiteren verminderter Akkord vor die Schlusskadenz geschoben (siehe PDF und MIDI weiter unten), weil "Platz war" (man kann den zusätzlichen Akkord schon auch harmonisch erklären, aber wozu?).
Seitenthema: Natürlich in C-Dur (natürlich? Naja – erstens üblich in einigen klassischen Formen; und zweitens soll ein Ragtime schon etwas strahlen, also muss ich weg aus Moll):
Nichts besonderes zu vermerken, außer dass ich mit dem Thema "irgendwohin" abdampfe ... hier beginnt's schon sehr mit der "nicht erste Sahne"-Qualität. Nach ein paar Querelen schaffe ich's ziemlich brutal zurück nach c-moll, und das Anfangsthema kommt wieder kurz dran. Dann allerdings verliert es sich in einer ewigen Folge von verminderten Septakkorden Richtung "irgendwohin" – sowas lässt sich wirklich leicht komponieren (oder muss ich das schon unter Anführungszeichen schreiben: "komponieren"?). Eine doppelte Verkürzung produziert die nötige Schlusssteigerung, einmal retour mit zwei fallenden Akkordzerlegungen (natürlich von verminderten Akkorden), und Schluss!
Wenn ich ehrlich bin, finde ich, ist das ein "Lehrbuchstück", wie man ein ernstzunehmendes Musikstück nicht schreibt – wer will, kann ja einmal Punkte aufschreiben, was alles "falsch" ist. Unter anderem: Es ist grad einmal eine Minute lang, versucht aber in dieser Minute mindestens vier verschiedenen Stimmungen nachzulaufen:
Ragtime
Tango
Menuett
Virtuosenstück
Was könnte man mit dem Stück tun? Einerseits: Es trotzdem spielen – weil's so eine Ansammlung von Verschiedenem ist, ist's vielleicht ganz lustig! Andererseits könnte man es einfach als Steinbruch für Ideen verwenden, die man woanders reinbaut ...
Im letzten Posting habe ich ja vorgeschlagen, eigene Komponiererei mit Ragtimes zu beginnen: Man kann sich dabei ziemlich einschränken in Bezug auf
Harmonien (I-IV-V und ein paar Doppeldominanten),
Begleitmuster (Stride!),
Formen (A-A', A-B-A)
und Rhythmus ("Standard-Ragtime-Synkopierungen").
Bei der Stimmführung sollte man ein wenig Wert auf Ansätze einer Bassmelodie legen und Melodiepausen mit kleinen Gegenmelodiestückchen überbrücken ... aber auch nicht zuviel. Einen kleinen Anfang eines Ragtimes hab' ich ja in dem letzten Posting zusammengebaut ...
... aber danach habe ich Lust auf mehr bekommen! Nächste Melodieidee? Statt der diatonischen Tonleiter eine chromatische! Wieder habe ich sie synkopisch zerlegt:
Und dann habe ich mich ans Klavier gesetzt und wollte ein wenig herumprobieren, wie's weitergehen könnte. Ich wollte eigentlich im Bass "ganz gerade" mit einem tiefen c fortsetzen – aber ich war zu tapsig und bin auf's e neben dem f gerutscht: Und so ist die nachfolgende Bass- und Melodieführung entstanden:
Wegen des "Unfalls mit dem e" hat der Ragtime auch seinen Namen bekommen: Accidental Rag. Erst später ist mir aufgefallen, dass das Notenbild wegen der chromatischen Tonleitern auch ziemlich voll mit Vorzeichen ist, die auf englisch "accidentals" heißen, sodass der Name auch deshalb passt!
Eine einfache Überleitung moduliert für's zweite Thema nach A-Dur:
Als zweites Thema hat der Ragtime eines bekommen, dass nicht steigt und fällt, sondern fällt und steigt (Basslauf). Wegen der A-Dur versteige ich mich hier sogar zu einem fisis mit Doppelkreuz ... das könnte man mit etwas mehr Auflösungszeichen auch als g notieren, aber so ist es formal korrekt:
Das Thema wird in der Wiederholung leicht variiert, wobei man nicht an Weichheit verlieren darf. Danach folgt wieder das erste Thema, das dann aber ohne Wiederholung ziemlich schnell in eine Coda mündet, die den alten Trick der Dreifachwiederholung am Ende herauszieht (den's zumindest bei Mozart schon gibt) und dann ganz schnell endet.
Den ganzen Ragtime kann man sich hier herunterladen:
Als MIDI. Leider ist das MIDI-File zu "grob": Da muss man mehr an Gesanglichkeit reinstecken.
... und nun gibt's auch eine Aufnahme davon auf youtube – ich habe ihn des Vergnügens halber auf einer Kirchenorgel gespielt. Die Aufnahme ist allerdings nur als "Demo" zu verstehen, d.h. sie hat eher minimale Qualität:
Wenn man komponieren will, dann schadet es sicher nicht, sich an "kleineren Fingerübungen" zu versuchen. In der klassischen Kompositionsausbildung waren das wohl millionenfache Menuette, die da mit oder ohne Trios zusammengebaut wurden. Heutzutage wollen viel mehr Leute komponieren, was man "U-Musik" nennt – aber wenn es dann weiter "größere" (vom Umfang her oder vom Anspruch her) Kompositionen gehen soll, dann wünscht man sich auch einen größeren Vorrat vor allem an Harmonien, Formen oder Instrumenten. Bei ersten Stücken allerdings sind möglichst viele vorgegebene Entscheidungen hilfreich, um nicht von der "Freiheit erschlagen zu werden". Trotzdem soll natürlich etwas herauskommen können, was man sich anhören kann.
Ich mache einmal Vorschlag, der vielleicht jemandem hilft, sich schmerzloser der Komponiererei zu nähern: Ragtimes. Der bekannteste Ragtime ist sicherlich Scott Joplins "Entertainer", der als Titelmelodie des Films "Der Clou" wieder bekannt gemacht wurde (der Soundtrack mit Melodien von Scott Joplin erhielt übrigens einen Oscar). Die Cantina-Musik von John Williams aus dem ersten Star-Wars-Film ist – mit ihrer synkopierten ersten Melodie – auch ein Ragtime, der allerdings aus den Standardharmonien der alten Ragtimes weit ausbricht. Und obwohl Ragtimes eigentlich schon seit 100 Jahren außer Mode sind, scheint diese Art von Musik doch so attraktiv zu sein, dass nahezu in jeder zweiten Folge der "Clone Wars" auch irgendeine Band vorkommt, die Synkopen-Musik spielt ...
Bevor man sich selber an einen Ragtime macht, sollte man sich schon einige solche Stücke anhören. Warren Trachtman bietet auf seiner Website die MIDIs von hundert oder mehr Ragtimes an, und auf youtube kann man sie sich sicher auch in Massen anhören. Ich habe allerdings bemerkt, dass sich nach dem Hören von mehr als 10 oder 15 Ragtimes mein Kopf "verklebt" – man sollte also mit dem Anhören aufhören, bevor man so weit ist.
Hier ist ein "Kochrezept", um einen Ragtime zusammenzuschrauben – gedacht für das typische Ragtime-Instrument, also das Klavier:
Man nehme eine Melodieidee und versehe sie mit genügend Synkopen.
Als Begleitung nimmt man einen einfachen Stride auf Tonika und Dominante; in der Schlussfigur macht sich eine Doppeldominante (Septakkord auf der zweiten Stufe) ganz gut.
Als Form beginnt man mit der einfachsten "Liedform": a – a' mit Schluss, also Melodie plus noch einmal veränderte Melodie.
Wenn die erste Version steht, kümmert man sich um zwei zusätzliche Stimmführungen: die "Bassmelodie", also die Folge der Basstöne der Begleitung; und kleine Gegenmelodiestücke, die man zumindest in den Pausen der Hauptmelodie unterbringt.
Die Form lässt sich dann erweitern zu einer dreiteiligen Liedform (A-B-A) mit einer markant anderen zweiten Melodie; oder sogar zu beliebig langen "Ragtime-Rondos" A-B-A-C-A-D-... – allerdings sollte man übungshalber wohl lieber kurze Stücke schreiben, dafür lieber mehr.
Fertig.
Fertig? Und wie geht das jetzt genau? Ich fürchte, hier muss (müsste) der persönliche Unterricht einsetzen: Denn ja nachdem, wo man nicht mehr weiterkommt, braucht man dort Anleitung, Hilfe, aber vor allem auch Übung. Der Knackpunkt der Sache ist und bleibt jedenfalls die Harmonisierung, also der zweite Schritt: Sie muss korrekt sein – und das muss man können und hören können. Wie man das lernt, wenn man's noch nicht kann, weiß ich eigentlich nicht – bei meinen Kindern merke ich, dass unendlich langes Blues- und Boogie-Klimpern zu einer Verfestigung der üblichen Harmonien führt, mit zaghaften "Ausbruchsversuchen": Das ist, für Klavier- und Keyboardspieler, sicher eine wichtige Sache. Wie's andere lernen, insbesondere die Spieler von einstimmigen Instrumenten (dazu gehört auch die Singstimme), weiß ich leider nicht – vielleicht erklärt mir das einmal ein solcher ...
Andererseits kann man, wenn man das will, die einfache Harmoniefolge wie im Jazz dazu benutzen, um Substitutionen noch und nöcher auszuprobieren – immerhin ist der Ragtime ja eine der wichtigen Grundlagen des Jazz, und neben dem notierten Ragtime ist immer schon der improvisierte dagewesen, der einen Klavierspieler je nach Wagemut mehr oder weniger weit weg von I-IV-V(-II)-Harmonien führt. Eine Tritonus-Substitution geht dabei allerdings, wenn man dem Stil eines "alten Ragtime" treu bleiben will, vermutlich zu weit – aber alle "normaleren" Substitutionen kann man jedenfalls versuchen (und zum Beispiel im Entertainer den F-Akkord im dritten Takt durch einen Dm7 ersetzen?!).
Damit dieses Posting nicht vollkommen ohne Noten bleibt, bastle ich hier "zum Zuschauen" noch einen Ragtime zusammen.
Die Idee zur Melodie (einmal rauf und runter) hab ich mir eine halbe Minute vor der S-Bahn-Abfahrt "überlegt", den Rest baue ich nach meinem inneren Gehör zusammen. Wer das (noch) nicht kann, probiert am Klavier (oder auf seinem Instrument – bei einstimmigen wird's aber, wie gesagt, wohl schwierig). Melodie: Nehmen wir einfach eine Tonleiter rauf und runter:
Damit es ein Ragtime wird, versehen wir sie mit einem Ragtime-typischen Rhythmus – verschiedener Rhythmus für die beiden Takte ist besser als gleicher! Hinten kleben wir eine Note an, damit der zweite Takt voll wird:
Dann bauen wir einen Standard-Stride drunter:
Wie geht es weiter? Entweder man erfindet die Melodie weiter – im trivialsten Fall als Sequenz, von der man "irgendwie abzweigt":
Aber man kann auch den Bass fortführen: Und wenn schon so, kann man gleich vom langweiligen Stride etwas abweichen und eine "Bassmelodie" erfinden. Im letzten Takt steht übrigens als Hinleitung zum Septakkord diese Doppeldominante "DD7":
Wenn man den Bass als "Input" nimmt, muss sich nun aber dazu eine Melodie ergänzen – "wohin auch immer die Finger laufen" (im Kopf oder auf der Tastatur):
Das kann man jetzt so lassen – erster Teil "fertig". Oder man packt ein wenig Schul-Stimmführungsregeln aus und baut – nur der Übung halber – ein paar gröbere Schnitzer aus:
Bei [1] haben wir eine schöne eingesprungene Oktave (beide Stimmen gehen von unten zu einem f); mögliche Korrektur: Obere Stimme springt statt auf's f bis auf's a, dann "irgendwie zurück". Andere Möglichkeit: a statt c als erste Note im Takt. Das hat neben der Gegenbewegung von Begleitung und Melodie auch den netten Effekt, nach der simplen Tonleiter rauf und runter einen unerwartet hohen Ton einzuführen.
Bei [2] eingesprungene Quinte (Stimmen gehen parallel zu c+g); mögliche Korrektur: im Bass e statt c.
Bei [3]: Das d# muss im weiteren zum e auflösen. Wenn wir aber das Motiv aus dem ersten Takt wiederholen, beginnt dort die Melodie mit c! Mögliche Korrekturen: Motiv um eine Terz verschoben wiederholen; oder das d#" durch ein g" ersetzen.
Hier ist eine solche Korrekturversion. Die roten Noten sind die, die wegen der Kritikpunkte von vorher angepasst worden sind. Hinten habe ich einen A'-Teil angehängt, der wieder zurück zur Tonika findet. Im Takt 6 ist die Einführung einer neuen Harmonie auf den leichten Taktteil der Stridebegleitung ziemlich zweifelhaft – sie rechtfertigt sich aber durch die a-moll-Auflösung und die akkordische Begleitung im Takt 7: Hier kann man beliebig diskutieren, wie "richtig" das ist. Aber deshalb gibt's ja auch einen "verantwortlichen Komponisten": Wenn er oder sie sagt, dass das so bleibt, dann bleibt es so.
Wie's weitergeht? Ehrlich gesagt, hänge ich jetzt: Das Thema hat kaum Pausen, deshalb gibt es keine einfache Möglichkeit für eingeschobene Gegenmelodiestückchen; bei einem Satz für Bläser könnte eine ruhige Holzbläser-Mittelstimme eingeschoben werden, aber am Klavier wär' das ziemlich komisch. Ich lass es einmal dabei.
Machen wir jetzt eine harmonische Analyse von dem Stück(chen)? Nein – nichts da! Wir wollen komponieren, nicht analysieren!! Aber wozu ist dann dieses ganze Harmonielehre- und Stimmführungswissen, das ein/e Komponist/in haben muss? Ich sag es noch einmal: Muss sie oder er nicht!Wenn man es hat, hilft es einem, wie oben Stellen "umzukonstruieren" – weil sie "falsch" sind (gegen irgendeine Regel verstoßen, die man einhalten möchte), oder weil sie zu wenig interessant sind (dann kann man eben doch einmal eine Tritonus-Substitution anzuwenden versuchen).
Aber viel wichtiger ist, dass man die "richtigen" und "falschen" Harmonien und Harmoniefolgen hört – dass man die Harmoniemuster "kann" (nicht "weiß")! Und entweder kann man das sowieso ganz gut – viele Leute können es! – nämlich alle die, die Fehler "einfach so" hören können, wenn jemand anderer ein "üblich harmonisiertes" Stück spielt. Oder man muss es sich aneignen. Ich glaube (aber da bin ich mir keineswegs sicher), dass enorm viel Anhören von "klar gestrickter" Musik diese "Muster" in den Kopf kriegt. Meine Auswahl wären in erster Linie Strauß-Walzer und -Polkas (was man beim Neujahrskonzert hört), Ragtimes, Blues und Boogie, dann auch Volksmusik (wenn sie einem liegt) und wenn man unbedingt will hin und wieder am Anfang (nur zum Harmonien hören lernen!!) irgendein Gedudel von volkstümlicher Musik. Beatles-Songs gehören nicht dazu – die sind harmonisch und vor allem von der Stimmführung her viel zu kompliziert (mit Ausnahme vom Hauptteil von "When I'm 64").
Ich bin kein Komponist – oder bin ich einer? – denn seit einiger Zeit komponiere ich hin und wieder. Weil ich ab und zu bei uns Gottesdienste auf der Orgel begleite, konzentrier ich mich (momentan?) auf mittelkurze Orgelstücke, die ich nach einigem Üben dort als Anfangs- oder Schlussstück aufführen kann, wenn ich will. Mindestens die Hälfte meiner Kompositionen ist mir aber zu schwer, oder sie passen partout nicht in die Kirche. Vielleicht stell ich manche Stücke hier einmal her.
Ich erzähle gleich, was Komponieren für mich ist – und zwar deshalb, weil ich gestern ein paar Dutzend Postings in diversen Foren gelesen habe, wo Leute die übliche Frage stellen, die ich mir auch stelle: Wie lernt man komponieren?
Etwa in der Hälfte der Fälle ist die Frage: "Mir fallen (in der U-Bahn, in durchwachten Nächten, am Klo) immer so gute Melodiestücke ein – nur wie mache ich draus eine richtige Komposition?" Die andere Hälfte fragt noch genereller: "Wie fange ich zu komponieren an?"
Die Antworten sind meistens entweder "Tu's einfach" (was dem Fragesteller, meine ich, überhaupt nicht weiterhilft – er oder sie hat ja eben gerade ein Problem mit dem "Tun"); oder Versuche einer Einführung in eine dreiklang-basierte Harmonielehre. Letzteres ist nicht hilfreich, weil man damit entweder die Frager verschreckt (Harmonielehre, noch dazu am Papier und ohne Instrument, ist enorm schwer); oder weil sie eh einen genügend großen Ausschnitt davon können – und dann feststellen, dass dieses Können beim Komponieren-Anfangen näherungsweise nichts hilft.
Wie geht also eine bessere Antwort?
Es gibt da ein Buch, an dem sich die Geister scheiden: Diether de la Motte's "Wege zum Komponieren". Die (nicht allzu vielen) Kritiken am Internet sagen zu zwei Drittel "katastrophal, Kinderbuch, was soll das?", zu einem Drittel "so geht es" (mit mehr oder weniger Qualifizierungen). Ich finde, dass man das Buch zur Hand nehmen sollte – allerdings muss man wissen, wie man damit umgeht: Und leider gibt de la Motte dafür überhaupt keine Erklärung. Obwohl ich ein millionenfach kleineres Licht als de la Motte bin, versuche ich hier zu erklären, was Komponieren ist.
Vielleicht hilft es ja jemand, bei dieser Frage – oder eigentlich auf diesem Weg – "Wie lerne ich komponieren?" ein Stück weiter zu kommen.
Ich mache es, wie man das so macht, mit einem Gleichnis: Und zwar vergleiche ich Komponieren mit Architektur. Der Vergleich wird natürlich irgendwo zu hinken beginnen, aber er trägt schon eine ziemliche Zeit, finde ich. Ich mach's gleich systematisch: In der folgenden Tabelle steht links ein Text über Architektur; rechts stehen die Entsprechungen aus der Musik. Wie soll man das lesen? Vielleicht links runter, mit einem Blick auf die rechte Seite ... oder auch immer abwechselnd, links-rechts-links-rechts ...
Architektur ist die Kunst, ein Gebäude zu planen. Das Ergebnis der Tätigkeit ist ein Plan – das Gebäude muss dann jemand anderer bauen, aber das interessiert uns hier nicht mehr.
Komponieren ist die Kunst, ein Musikstück zu schreiben. Das Ergebnis der Tätigkeit ist eine Partitur (üblicherweise "Noten") – das Stück kann dann jemand anderer aufführen, aber das interessiert uns hier nicht mehr.
Ein Gebäude plant man für jemand – irgendwer soll das Gebäude zufrieden benutzen können: In einem Wohnhaus wohnen, in einer Fabrik produzieren, in einer Kirche Andacht halten.
Ein Musikstück schreibt man für bestimmte Zuhörer – ein Filmpublikum, "Kids", für einen selber. Der oder die Zuhörer sollen damit "zufrieden" sein: Es soll ihren Erwartungen entsprechen, aber auch "mehr sein" als alle bisherigen Songs oder Opern oder Soundtracks, die sie bisher gehört haben.
Man kann mit der Planung eines Hauses beginnen, indem man eine Idee für einen Teil des Hauses hat: Ein Wohnzimmer, wie sich das eine vierköpfige Familie schon immer gewünscht hat! Eine genial flexible Anordnung von Büros! Eine Bibliotheks- oder Museumsfassade, die alle anlockt und zum Verweilen einlädt!
Man kann mit dem Komponieren eines Musikstücks beginnen, indem man eine Idee für eine Melodie oder für eine Basslinie oder einen Text hat.
Aus dieser Idee und um diese Idee kann man einiges weitere "hervorkitzeln" ...
... aber tatsächlich gehört zur Planung eines Hauses doch viel mehr – nämlich sowohl Handfestes als auch Künstlerisches, zum Beispiel
Wissen über Statik
Wissen über Baumaterialien
Wissen über Kosten und Bautechnik
Wissen über Stilrichtungen
– und immer wieder Wissen darüber: Was hat sich bewährt, was hat sich nicht bewährt?
... aber tatsächlich gehört zum Komponieren eines Stückes doch viel mehr – sowohl Handfestes als auch Künstlerisches, zum Beispiel
Wissen über Formen
Wissen über Klänge, Instrumente und Singstimme
Wissen über Harmonien
Wissen über Stilrichtungen
– und immer wieder Wissen darüber: Was hat sich bewährt, was hat sich nicht bewährt?
Heißt das nun, dass Architekten alles das und noch viel mehr bis ins Detail beherrschen müssen? Nein!Nichts davon ist unbedingt nötig!
Meine Mutter hat beide Häuser geplant, in denen wir gewohnt haben – ohne Wissen über Statik, aber mit viel Wissen darüber, was eine Familie braucht. Für den "Rest" hat sie einfache, übliche Lösungen vorgesehen: Senkrechte Ziegelwände (keine auskragenden Eckträger!), ziegelgedecktes Sattel- oder Walmdach (kein pflanzenbewachsenes Flachdach); und natürlich hat sie Wissende gefragt, wo's aus ihrer Sicht nötig war. Dass dadurch nichts Herausragendes oder Großartiges entstand, ist klar: Aber dafür war es das richtige Haus an dieser Stelle und für diesen Zweck.
Heißt das nun, dass man zum Komponieren alles das und noch viel mehr bis ins Detail beherrschen muss? Nein!Nichts davon ist unbedingt nötig!
Einfache, übliche Lösungen können Fachwissen oder Interesse ersetzen. Was ist gegen eine ABA-Liedform einzuwenden? Warum nicht Standardakkorde verwenden, die einem gefallen? Dass dadurch nichts Herausragendes oder Großartiges entsteht, ist klar: Aber dafür ist es das richtige Stück an dieser Stelle und für diesen Zweck. Und im Gegensatz zu Gebäuden kann man im Jahr zehn oder hundert oder noch mehr Stücke komponieren – also kann man noch viel mehr "mit sich selbst experimentieren"!
Aber ... ich bin oben zu schnell über das Finden von guten Ideen hinweggangen: Ist diese Wohnzimmer- oder Büro- oder Fassadenidee wirklich so gut? – da kommen einem dann bald Zweifel. Vor allem auch, weil die Idee durch die nachfolgende "Einbettung" ins ganze Haus sich ja verändert:
Direkt, weil sie wegen Platz- oder Technik- oder Kostenzwängen angepasst werden muss.
Aber auch schon "indirekt", weil sie einfach dadurch, dass sie in einen Kontext gestellt wird, sich behaupten muss – und da sieht sie vielleicht doch nicht mehr so gut oder neu aus: Die "cool-einfache" Fassadenidee wirkt bei zig-facher Wiederholung am großen Bürogebäude wie ein Gefängnis; die geniale Anlage des großen Wohnzimmers zwingt zur Verlegung der Küche in den Keller.
Aber ... ich bin oben zu schnell über die das Finden von guten Ideen hinweggangen: Ist diese Melodie- oder Bassidee wirklich so gut? – da kommen einem dann bald Zweifel. Vor allem auch, weil die Idee durch die nachfolgende Verquickung mit anderen Stimmen und Instrumenten, durch die "Einbettung" in eine längere Form (Sonate? Jam-Session?) sich ja verändert.
Direkt, weil sie wegen Harmonie- oder Spielzwängen angepasst werden muss.
Aber auch schon "indirekt", weil sie einfach dadurch, dass sie in einen Kontext gestellt wird, sich behaupten muss – und da sieht sie vielleicht doch nicht mehr so gut oder neu aus: Die schrägen Tonarten-Übergänge in der Melodie lassen sich nicht im gewünschten Stil oder mit den eigenen Fähigkeiten harmonisieren; die weit ausladende Steigerung zum grandiosen Finale ist für den 3-Minuten-Brick-Film absolut übertrieben!
Klar – man kann die Idee wegwerfen.
Aber so schlecht war sie ja nicht – im Gegenteil, sie ist einem ja sogar so gut erschienen, dass man eben daraus was Großes machen wollte!
Offenbar gibt es da noch etwas, was man können sollte: "Mit Ideen umgehen". Ideen hervorrufen, Arten von Ideen gern haben, Ideen ändern, umbauen, modifizieren – so, dass etwas Neues bleibt, sich anderes ändert: "Spielen mit Ideen", aber auch "Arbeiten mit Ideen". Der Unterschied ist: Beim Spielen erlaubt man sich ohne Kritik, "aus dem Bauch heraus", intuitiv an seinen Ideen herumzuwerke(l)n; beim Arbeiten geht man rational, mit "Ideen über Ideen" an seine Ideen.
Ein Teil dieses "Arbeitens mit Ideen" hat mit dem "Erlernen von Phantasie" zu tun – über den Tellerrand hinauszuschauen: Ein Baum, ein Zaun, ein Ameisenhaufen, eine Wolke, sogar eine Software ("straight line code" = "assembly line") oder eine Organisation ("Trennung der Gewalten" = "Verantwortungsbereiche") können Ideen über Gebäude anregen – nicht als fertige Pläne: Aber zumindest als Metaphern, vielleicht aber doch auch als konkrete Elemente in einem Gebäude.
Ein Teil dieses "Arbeitens mit Ideen" hat mit dem "Erlernen von Phantasie" zu tun – über den Tellerrand hinauszuschauen: Ein Geräusch, ein Gespräch, eine Tätigkeit, sogar ein Geruch ("scharf und aufregend") oder eine Organisation ("Trennung der Gewalten" = "Trennung der Stimmen") können Ideen über ein Musikstück anregen – nicht als fertige Partitur: Aber zumindest als Metaphern, vielleicht aber doch auch als konkrete Elemente in einem Musikstück.
Ein anderer Teil des "Arbeitens mit Ideen" hat mit der "Kreuzbefruchtung" der Teildisziplinen zu tun: Die Statik, die Baumaterialien, die Nutzung oder die Kosten können bestimmte Formen bevorzugen, die dann als genuine Stilelemente entwickelt werden können: "Form follows function", Sichtbeton, offene Dachstühle sind solche "Grenzüberschreitungen", die mir (als absolutem Architekturlaien) einfallen.
Ein anderer Teil des "Arbeitens mit Ideen" hat mit der "Kreuzbefruchtung" der Teildisziplinen zu tun: Die Harmonik, die Instrumente, die Formenlehre können bestimmte Muster bevorzugen, die dann als genuine Stilelemente entwickelt werden können: Liedform nicht nur im kleinen (wo das Wiederholen von musikalischen Motiven uns allen selbstverständlich ist), sondern im ganz großen; Harmonien, die Stimmführung induzieren und umgekehrt (was man bei Bach, aber auch in jeder Jam-Session feststellen kann); Rhythmus als Melodiegeber, Instrumenten- und Stimmgrenzen als Stilelemente (Countertenöre, Naturtonhorn, ethnische Instrumente im Jazz) sind solche "Grenzüberschreitungen", die mir einfallen.
Ein dritter Teil des "Arbeitens mit Ideen" ist das kritische Verbessern von Ideen. Man kann nicht viel anderes sagen als "interessantere Ideen sind interessanter": Ideen und Elemente, die noch nicht da waren, die man nicht kennt, haben einen "Wert an sich". Einer Idee ihre "trivialen Anteile auszutreiben", sie "interessant zu machen durch die 'richtige' Mischung aus Klarheit und Überraschungen, Vertrautem und Neuem, Verstehbarem und Grenzüberschreitendem – darum geht's.
Und nur dieses Arbeiten mit Ideen ist der Inhalt von de la Motte's "Wege zum Komponieren": Das Buch heißt nicht umsonst so – nicht "Wege des Komponierens" oder "Methoden des Komponierens" oder so. Das ist auch "alles", was es leistet: Jemanden, der auf der "Suche nach der Suche nach Ideen" ist, Wege (Plural!) zu zeigen – von denen man den einen oder anderen gehen kann (ich will irgendwann Rondos komponieren), viele aber sicher nicht gehen wird (Geräusche? neue Klänge? interessieren mich nicht sehr – obwohl ich da ein schlechtes Gewissen dabei habe: Denn muss sich ein Komponist damit nicht beschäftigen?); und auf diesen Wegen das "Schärfen von Ideen" zu lernen (daher sein Insistieren auf dem Radiergummi – ich bin mit der Delete-Taste zufrieden).
Ich versuch es noch einmal zusammenzufassen: Komponieren kann man – wie jede interessante kreative Tätigkeit: Kunst, aber auch Ingenieursdisziplinen oder alles, was mit Menschen zu tun hat – als Zusammenwirken von zwei Bereichen sehen: Ideen; und Methoden.
Die Methoden sind viele, und sie lassen sich aufschlüsseln nach einem "Kanon", der sich in den letzten Jahrhunderten entwickelt hat. Viele Methoden kann man lernen – aber man muss keine einzige beherrschen; ein paar davon sollte man jedoch "sein Eigen nennen": sie können; und können wollen; und darin mit Vergnügen besser werden.
Ideen hat man immer wieder – nur soll man an seinen Ideen auch arbeiten: Neue aus sich rauskitzeln können; und wenn sie da sind, sie "schärfen" = verbessern nach den Maßstäben, die man selbst und dann wohl auch die intendierten Zuhörer daran anlegen werden.
Weil ein Musikstück so viele Dimensionen hat, muss man sich in den Anfängen des Komponierens entlang vieler dieser Dimensionen einschränken:
Vielleicht nur bestimmte (kurze) Formen wählen – Vorschläge: Strophe+Refrain, Liedformen;
Vielleicht nur bestimmte Gruppen von Klängen wählen – Vorschläge: einige übliche Instrumente (zumindest jene/s, das oder die man selber spielt), einige Sample-Libraries;
Vielleicht nur bestimmte Arten von Harmonien verwenden – Vorschlag: die, mit denen man sich wohlfühlt; die man auf seinem Instrument kann;
Vielleicht am Anfang nur Textvertonungen – Texte "erzeugen" oft Musik(ideen);
Vielleicht nur bestimmte Arten des "Notierens", mit Klavier+Papier; oder Notenprogramm ohne Abspielen (mein Weg); oder Einspielen und Abspeichern mit einem Synthesizer (in unseren modernen Zeiten ist "Abspeichern" auch eine Form von "Notieren") – Vorschlag: Sich auf eine Methode festlegen und mindestens ein paar Wochen dabei bleiben, weil jede Methode insofern anstrengend ist, als man mit ihren jeweiligen Problemen irgendwie umgehen muss (Abspeichern ist z.B. schwer punktuell änderbar - "diese Bassfigur ohne Quinte, und dreimal statt zweimal wiederholt"? Papier kann man so schwer abspielen, wenn einem danach ist; Notenprogramm braucht lang zum Notieren von "Selbstverständlichem").
Und wenn man sich da bewusst festgelegt hat, dann kann man mit allen anderen Dimensionen spielen – den üblichen: Melodie, Rhythmus, Harmonien, Tempi; und anderen: Text, Aufführungsart ("im Freien zu spielen") oder was immer.
So geht das mit dem Komponieren-Lernen.
Wenn jemand nun wieder erwartet hat, dass hier was steht über Harmonisieren, Einspielen von Stücken, Instrumentieren oder gar Aufführung selbstkomponierter Stücke, dann versteht er oder sie jetzt, dass alle diese Dinge zwar zum Komponieren gehören – dass das aber keine dieser Tätigkeiten Komponieren "ist":
Komponieren ist, in jedem dieser Bereiche aus den unendlichen Möglichkeiten auszusuchen; dieses Aussuchen, dieses Entscheiden kann man aber nicht geradeaus lernen, so wenig wie man lernen kann, den richtigen Freund oder die richtige Freundin auszusuchen; und überhaupt die richtigen Entscheidungen im Leben zu treffen.